Sasha Waltz erhält den Deutschen Tanzpreis 2024. Endlich. Die 61-jährige Choreografin prägt den zeitgenössischen Tanz in Deutschland schließlich seit vielen Jahren.
Die Bewegungen auf der Bühne wiederholen sich, gehen ineinander über, sie überkreuzen sich im wilden Rausch. Zu Terry Rileys Minimal-Music-Komposition »In C« von 1964 hat Sasha Waltz ein Wechselspiel zwischen sichtbarer Struktur und Improvisation kreiert – 53 Bewegungsfiguren, die das Prinzip der 53 Phrasen übernehmen, aus denen die Partitur des amerikanischen Komponisten und Pianisten besteht. Es ist ein offenes Prinzip, das weder die Anzahl der Musizierenden vorgibt, noch, wie lange eine Phrase gespielt werden soll. Sasha Waltz hat 2021 ihre so minimalistische wie dynamische Choreografie während der Corona-Pandemie entwickelt, 2021 zunächst als digitale Version uraufgeführt, später live. Außerdem erstellte sie Video-Tutorials für die Vermittlung an andere Tänzer*innen oder Laien. 2023 zum Beispiel zeigten die Ruhrfestspiele eine studentische Ausgabe von »In C« mit Nachwuchstänzer*innen des Instituts für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste. Im ukrainischen Kharkiv führten Tänzer*innen das choreografische Material auf – mitten im Krieg.
Unverwechselbare choreografische Handschrift
Das alles zeigt ziemlich gut, wie innovativ und vielfältig Sasha Waltz arbeitet. Und warum die Choreografin, Tänzerin und Regisseurin jetzt mit dem Deutschen Tanzpreis 2024 ausgezeichnet wird. In der Szene stellt sich auch vielmehr die Frage, ob sie ihn nicht längst schon verliehen bekommen habe? Nein, die 61-Jährige bekommt diese höchste Auszeichnung in der Kunstsparte zum ersten Mal, und das völlig verdient. «Als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin, deren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt in Berlin verortet ist, hat sie mit ihrer Kunst die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes seit Beginn der 90er Jahre maßgeblich mitgeprägt. Dabei hat sie ihre unverwechselbare choreografische Handschrift und ihren ästhetischen Zugriff bis heute weiterentwickelt.» So heißt es in der Jurybegründung.
Ein Blick in ihre Tanz-Geschichte und auf ihre Handschrift: Nach ihrem Tanz-Studium in Amsterdam und New York entwickelte sie ihre »Dialoge«-Reihe als Stipendiatin des Künstlerhaus Bethanien in Berlin. 1994 gründete sie ihre Kompanie »Sasha Waltz & Guests«, 1996 gemeinsam mit ihrem Partner und Kompanie-Manager Jochen Sandig ihre eigene Spielstätte in den Berliner Sophiensælen.
Mit ihrem Eröffnungsstück »Allee der Kosmonauten« wurde Waltz prompt zum Berliner »Theatertreffen« eingeladen. Eine verspielte Inszenierung, die verschiedene musikalische Stilrichtungen mischte. Bahnbrechend, nicht nur für ihre Produktionsstätte. Waltz kann auf eine enorme Erfolgsgeschichte zurückblicken. Nach leichteren Stücken in ihrer Anfangszeit rückte sie das Körperliche in den Mittelpunkt. 1999 eroberte sie als erste Choreografin die Berliner Schaubühne, gehörte mit Thomas Ostermeier, Jens Hillje und Jochen Sandig zum künstlerischen Leitungsteam. Mit »Körper« (2000) wurde sie erneut zum Theatertreffen eingeladen, eine wichtige, große Arbeit in ihrem Werk. Darin überprüfte sie, was Bewegung im Raum bedeuten kann.
Immer wieder erfindet sich Sasha Waltz künstlerisch neu. Nach diesen eher körperorientierten Arbeiten geht sie weiter zum expressionistischen Tanz, arbeitet mit der niederländischen Modedesignerin Iris van Herpen zusammen, wendet sich sogar dem Musiktheater zu, inszeniert die »choreografische Oper« als Mischung aus Tanz, Gesang und Musik. In »Beethoven 7« kontrastiert sie das klassische Werk mit einem Auftragsstück des zeitgenössischen Komponisten Diego Noguera. Und jetzt im Frühjahr kreierte sie eine getanzte Version von Bachs »Johannes-Passion« in Salzburg bei den Osterfestspielen. Es ist die erste choreografierte Version überhaupt – und wieder ein großes Waltz-Werk.
Einen Knick in ihrer Karriere gab es 2019, nachdem sie gemeinsam mit Johannes Öhmann zur Co-Intendantin des Berliner Staatsballetts berufen worden war, bereits wenige Monaten nach Beginn ihrer ersten Spielzeit aber zurücktrat. Öhmann hatte damals eine neue Stelle in Stockholm angenommen und Waltz vor vollendete Tatsachen gestellt. Aber die souveräne Choreografin ist daran nicht zerbrochen, sie hat weitergemacht, entwickelt ein künstlerisch sensationelles Werk nach dem nächsten. Sie ist experimentierfreudig, vielseitig und international angesehen. Mit ihrer Company tourt sie weltweit. Den mit 20.000 Euro dotierten Preis erhält Sasha Waltz im Rahmen einer Tanz-Gala des Dachverbands Tanz Deutschland am 12. Oktober im Aalto-Theater. Dort präsentieren Tänzer*innen von »Sasha Waltz & Guests« auch Ausschnitte aus ihrer Arbeit »In C«.
Mit Sasha Waltz wird erneut eine Vertreterin des zeitgenössischen Tanzes ausgezeichnet. Und sie ist nicht die einzige an diesem Abend. Der Tänzer, Choreograf und Tanzpädagoge Dieter Heitkamp erhält die Ehrung für sein Lebenswerk. Heitkamp war 24 Jahre lang Tanz-Professor in Frankfurt am Main und hat dort an der Musik- und Kunsthochschule den Fokus auf zeitgenössischen Tanz gerichtet. In der Jurybegründung heißt es: »Dieter Heitkamp ist eine treibende Kraft im deutschen Tanz. Er initiierte zahllose Programme, Formate und Aufführungen und ist ein unermüdlicher Künstler und Pädagoge, der junge Tänzer*innen unterstützt und ermutigt, flexibel, kreativ und offen für lebenslange Lernprozesse zu sein.«
Für herausragende Entwicklung im Tanz wird außerdem das Netzwerk »explore dance – Tanz für junges Publikum« geehrt. Dessen Auftrag lautet in der Selbstbeschreibung »die noch immer bestehende Leerstelle im Kulturangebot für Kinder und Jugendliche in Deutschland zu schließen«, dafür setze sich das Netzwerk mit großem Engagement und kulturpolitischer Energie ein.
11. Oktober: Tanzpreis-Kultursalon, PACT Zollverein, Essen
12. Oktober: Gala im Aalto-Theater, Essen