Im Ausstellungsreigen zum 75. Todestag von James Ensor ist das Königliche Museum für Schöne Künste Antwerpen einer der zentralen Player. Schließlich beherbergt das KMSKA nicht nur die weltweit größte Ensor-Sammlung, sondern auch ein Forschungszentrum zu seinem Œuvre. Mit »Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus« würdigt das KMSKA einen Maler, der sich von Kolleg*innen inspirieren ließ, ohne seine Originalität einzubüßen.
James Ensor als vielseitigen Künstler zu charakterisieren, wäre eine glatte Untertreibung: Der Belgier (1860-1949), der vor allem durch seine Maskenbilder und die mal makabren, mal humoresken Darstellungen von Skeletten in die Kunstgeschichte einging, erprobte seine Kreativität in etlichen Disziplinen: Er brillierte nicht nur als Maler und Zeichner, er tat sich nicht bloß als Journalist und Verfasser kunstkritischer Satiren hervor, sondern agierte auch als Musiker und Komponist.
Das am KMSKA angesiedelte Ensor Research Project bestellt also ein weites Forschungsfeld. Zu ihm gehören Ensors Aktivitäten in der Brüsseler Künstler-Gruppe Les XX, die zwischen 1884 und 1893 zehn Ausstellungen organisierte, in denen belgische Maler ihre Werke gemeinsam mit Avantgardisten aus dem Ausland zeigten. Impressionisten wie Auguste Renoir und Claude Monet waren ebenso Gäste wie Odilon Redon, Paul Gauguin oder Vincent van Gogh. 1882, also noch vor dieser fruchtbaren Periode, malte Ensor »Die Austernesserin« – heute eines der Hauptwerke der grandiosen Sammlung im Königlichen Museum für Schöne Künste. Das Bild, wegen des delikat gemalten Arrangements von Speisen und Getränken eher ein Stillleben als eine Figurendarstellung, gilt als erstes impressionistisches Gemälde in Belgien.
Les XX bedeutete für den jungen James Ensor eine Art Katalysator. Die Gruppe brachte ihn in direkten Kontakt mit der Kunstentwicklung des späten 19. Jahrhunderts in anderen Ländern. Vor allem gilt das für den Impressionismus. Dessen malerische Momentaufnahmen hatten die Kunst seit 1860 revolutioniert.
Dass James Ensor von Bahnbrechern wie Manet, Monet, Pissarro und Renoir wegweisende Eindrücke empfing, als ausgeprägter Individualist allerdings nie vollends im impressionistischen Fahrwasser mitschwamm, dies und vieles mehr erfährt man in der Schau »Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus«. Sie ist eine von vier Ausstellungen in Antwerpen, die das Finale des Ensor-Jubiläumsjahres in Belgien bilden. Zuvor wurden in Ensors Heimatstadt Ostende sowie in Brüssel bereits mehrere Präsentationen gezeigt, die sämtliche Aspekte im Schaffen des Pioniers der Moderne beleuchteten. Gemeinsam mit den nun in Antwerpen startenden Events summiert sich der Zyklus zum 75. Todestag auf mehr als zehn Ausstellungen. Selbst das hiesige, nicht eben karge Jubiläumsprogramm rund um den Romantiker Caspar David Friedrich kann mit dieser belgischen Ensor-Offensive nicht mithalten.
Herwig Todts und sein Ko-Kurator Adriaan Gonnissen haben im Königlichen Museum für Schöne Künste ein Gipfeltreffen der Meister arrangiert, das die Jahrhunderte überbrückt und mit illustren Namen verschiedener Epochen aufwarten kann: Hieronymus Bosch, Rembrandt, Rubens oder Francisco Goya sind ebenso vertreten wie Edvard Munch und Emil Nolde.
Peter Paul Rubens, wohl der berühmteste Maler, den Antwerpen hervorgebracht hat, darf als Referenzfigur in der KMSKA-Ausstellung nicht fehlen. In seinem »Selbstporträt mit Blumenhut« von 1883 zitiert Ensor den barocken Malerfürsten – auf dessen Selbstporträt im Kunsthistorischen Museum Wien die prächtige Kopfbedeckung ins Auge fällt – später sollte Ensor aus ihr einen Blumenhut machen.
Eine andere ‚Vaterfigur‘ ist Édouard Manet (1832-1883), der Vorläufer des Impressionismus, der mit Bildern wie »Das Frühstück im Grünen« die Freilichtmalerei salonfähig machte. Schon der Schriftsteller Émile Verhaeren (1855-1916) erkannte die Parallelen im Werk der beiden Künstler. In der KMSKA-Schau kann man etwa Manets Bild »Ecke eines Café-Concerts«, aus der National Gallery London mit Ensors sozialkritischer Studie »Die Trinker« vergleichen. Beide Maler nehmen den Alltag, das moderne Großstadtleben mit seinen teils gleißenden, teils fatalen Verlockungen ins Visier, wobei Ensors Bilanz deutlich kritischer ausfällt.
Claude Monet ist in der Ausstellung unter anderem mit einer wunderbaren »Ansicht von Bordighera« vertreten; das Gemälde von 1884 ist aus dem Hammer Museum in Los Angeles nach Antwerpen gereist. Todts und Gonnissen stellen dem sonnentrunkenen Meeres-Panorama mit der italienischen Küstenstadt James Ensors »Vertreibung aus dem Paradies« von 1887 an die Seite. Das Thema, die Verbannung von Adam und Eva aus dem Garten Eden, ist ein völlig anderes. Doch eint die beiden Bilder die souveräne Behandlung von Licht und Farbe. James Ensor, das demonstriert die Ausstellung im KMSKA einmal mehr, bewegte sich auf Augenhöhe mit den Alten Meistern, den Impressionisten, den Symbolisten und den Vorreiter*innen der Klassischen Moderne. Den Maler, der bald 90 Jahre wurde, ernannte der belgische König Albert I. 1929 zum Baron. Zum Adel der Kunstgeschichte hatte er bereits Jahrzehnte früher gezählt.
»Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus«, Königliches Museum für Schöne Künste Antwerpen (KMSKA), 28. September bis 19. Januar 2025