Zur Eröffnung der Ruhrtriennale zeigt Ivo van Hove einen Drei-Königinnen-Liederabend mit »I Want Absolute Beauty«.
Ja, es gab schon einmal einen Liederabend, zur Eröffnung des allerersten Festivals 2002 auf dem Weltkulturerbe Zollverein, »Deutschland, deine Lieder«. Es gab Kreationen wie »Sing für mich, Tod« zum Beginn 2009, gab John Cages artifiziell vielgestaltige »Europeras« 2012. Und es gab auch schon Sandra Hüller in einer Eröffnungs-Produktion: 2015 bei Johan Simons in Pasolinis »Accattone« zu Johan Sebastian Bachs Musik auf dem unwegsamen Gelände der Zeche Lohberg. Um nur ganz wenige Beispiele zu nennen. Ivo Van Hove toppt die von Gerard Mortier erdachte Ur-Idee der »Kreatonen« mit aller Wucht (hier haben wir ein Interview mit ihm zur Inszenierung und der Ruhrtriennale 2024 geführt), als wolle er Goethes Gedanken der »Dauer im Wechsel« gleich jetzt für die Ruhrtriennale während seiner Intendanz anwenden.
Das evolutionäre Projekt Mensch – des homo artista – spiegelt sich in »I Want Absolute Beauty! mehrfach. PJ Harvey stiftet ihre Lieder entlang der eigenen Biografie, eine Schauspielerin interpretiert sie neu, ein Regisseur und drei Choreograf*innen inszenieren sie, Tänzerinnen und Tänzer begleiten sie, eine Videowand produziert Bilder dazu. Fast schon ein Zuviel an Transformation. Die Bühne in der Jahrhunderthalle Bochum ist ein lang gestrecktes, mit Erde bestreutes Feld, das sich in der Tiefe des Raums verliert. Alles sammelt sich zu einer großen Bewegung und Melodie, zu Aktion und Reaktion, Worten, die sich in Noten, die sich in Körper, die sich in Bilder, geschärfte und verwischte, konkrete und symbolische, übersetzen.
Vom »Stoffwechsel der Schicksale, der das Leben ist« sprach Imre Kertèsz. Dieser Umwandlungsprozess kann Niederschlag und Ausdruck finden in der Kunst. Von einer, die auszieht, das Leben oder leben zu lernen: So lässt sich Sandra Hüllers Stationenweg hier beschreiben, der sich als musikalischer Entwicklungsroman gliedert in vier Kapitel (»Grow«, »Love and Personal and Political Disappointments«, »Big Exit«, »Back Home«), gesetzt in 26 Songs.
»Teach me how to grow« heißt es in dem ersten Lied. An wen richtet sich diese Bitte oder Aufforderung – an Mutter Natur, das göttliche Prinzip, das Samenkorn des werdenden Ichs? Wie wird jemand, was sie bzw. er sein will? Ist der Glaube an sich selbst die Voraussetzung oder das Ergebnis, das Gelingen und Gnade für sich selbst ermöglicht und die Morgenröte eigener Autonomie und Vervollkommnung?
Polly Jean Harvey, Gottesanbeterin, Erlösungs-Prophetin, Leidens-Apostelin und Hohepriesterin ihrer eigenen Lebens-, Körper- und Herzensgeschichte schenkt das Material aus ihren Alben der 1990er und 2000er Jahre: Auch diese Lady singt den Blues, ruft die Landschaft ihrer Kindheit Dorset auf, feiert die Melancholie oder schwingt sich – zugleich meditativ und offensiv – mit ihrer musique engagée auf, um wieder einzutauchen in die Natur- und Innenwelt. Wer die Sehnsucht kennt, wird ein Ohr haben für ihre Education sentimentale. Sie stellt sich dem Schmerz, erinnert ihn und wäscht ihn fort, wandert durch Wüsten des Lieblosen, feiert die Begegnung mit dem Absoluten, das über sie hereinbricht wie ein Monsun in den Tropen, trauert um Verrat, oder wendet sich ab von ihrem Ego, um zu klagen über die Gewalt in der Welt und das ihr fremd werdende England.
Was für eine Verbindung: die Charismatikerin PJ Harvey und die beunruhigend unergründliche, sanft unerschrockene, sich verschlüsselnde Hüller. Die Sängerin Hüller sprengt alle Vorstellungskraft und zeigt anderes als ihr weich gezeichnetes Gesicht: leicht aufgeraut die Stimme, grollend, sirenenhaft sehnend, tosend, heulend, stöhnend und brüllend. Liebeslieder, Klagelieder, Zorneslieder, Angstlieder einer lost soul und eines lonely child, einer Träumerin, Kämpferin, Verzweifelten, Heimatverlorenen, Herzensgebrochenen, Himmelsstürmerin. Sie feiert den Exzess (»Angelene«, »The Dancer«, »Meet Ze Monsta«, »Rid of Me«) und exorziert ihn gleichermaßen, während die Tänzer-Gruppe Grimassen der Lust zeigen und in den Rhythmus der Kopulation fallen.
Hoch über dem Mutterboden flirren Bilder über die Projektionsfläche: verfallene Grabsteine, sich wiegendes Gras, ein Tunnel, Straßen als Fluchtweg, Feuerstürme eines Flammenden Inferno und Wasserfluten, die Kreidefelsen von Dorset, die Lichter von New York und das Auge einer Schauspiel-Zauberin. Die Tänzer*innen des Ballet National de Marseille fungieren als Doppelgänger, Verstärker, Stützen, Vermittler. Sie haben Sex im Leib, marschieren, stürzen, ballen sich zum Leichenhaufen. Die Neun in ihrer Street-Credibility führen – dynamisch und ekstatisch – den Stellungskrieg der jungen Körper, bei dem Sandra Hüller als eine der Ihren mithält. Dass die Welt irre ist, die Liebe Chaos und »a mess« ist, das Herz ein einsamer Jäger ist, davon erzählen die Songs und ihre theatrale Formung.
PJ Harveys Reich ist das »Desperate Kingdom of Love«. Sie teilt es in Bochum mit zwei weiteren Königinnen: mit der sich bravourös behauptenden, kaum wiederzuerkennenden, total mit sich identischen Hüller und mit einer dritten – in einem magischen Moment. Da erscheint wie eine mystische Vision das Gesicht von Isabelle Huppert auf der Leinwand. Die alterslose Circe singt und weiß vom Liebespalast in Trümmern und gibt ihr Wissen weiter und zurück an die jüngere Fee, ihre, ja, Erbin Hüller. Die Erfahrungen der Fremde und die Rückkehr zur Heimaterde bilden den Grund für Harveys / Hüllers Ich-Gefühl. So erringt sich Freiheit, sie fügt sich ins Elementare und blickt gelassen auf das Leben, wie es ist: »I have pulled myself clear«.
Vorstellungen in der Jahrhunderthalle Bochum bis 30. August: ausverkauft, vielleicht wenige Restkarten, www.ruhtriennale.de