Was die Fläche angeht, ist Flanderns Kunstlandschaft überschaubar. Nahezu unerschöpflich dagegen der Reichtum der Kunst, den die belgische Region zu bieten hat. »Flämische Meister in situ« erschließt Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart unter topographischen Aspekten. Verschiedene Touren führen zu jenen Orten, wo Kunst zu Hause ist.
Viele Meisterwerke, die wir in Museen bewundern, sind entwurzelt: Mit dem Ort, wo sie geschaffen wurden, lassen sie sich nicht mehr in Verbindung bringen. Oftmals haben sie mehrere Stationen zurückgelegt, bevor sie dauerhaft in einem Museum vor Anker gehen. Dagegen befinden sich in Flandern zahlreiche Meisterwerke noch an jenem Ort, für den sie geschaffen wurden. Das kann eine Kirche sein oder ein Kloster, ein Rathaus oder ein Schloss. Gebäude, die mehr sind als bloße Kulisse, die als Orte der Inspiration ins Gewicht fallen. Der Raum, das Licht, die Atmosphäre – all das beeinflusste die Gemälde, Skulpturen oder Altarwerke, die hier entstanden sind.
»Flämische Meister in situ« erleichtert die Orientierung durch eine interaktive Karte und verschiedene Filterkriterien. Man kann beispielsweise gezielt nach einer Gemeinde oder Stadt suchen, kann sich Werke bestimmter Künstler*innen anzeigen lassen und die »Art des Kunstwerks« auswählen. So ist es beispielsweise ein Leichtes, sich auf die Spuren von Jan van Eyck zu heften. Der berühmteste Vertreter der altniederländischen Malerei, gestorben 1441 in Brügge, hat sich vor allem durch seinen großartigen Genter Altar einen Ruhmesplatz gesichert. In der Barockzeit, einer Glanzperiode der flämischen Kunstgeschichte, überragt Peter Paul Rubens alle anderen Künstler. »Flämische Meister in situ« erlaubt es, den Malerfürsten auf einer Zeitreise nach Aalst, Antwerpen, Brüssel und Mechelen zu begleiten. Wo und wodurch wurden die flämischen Surrealisten und Expressionisten, die Künstler*innen der Nachkriegszeit und der Gegenwart inspiriert? Auch darauf findet man Antwort.
Meister am Meer entdecken
Wer eine kuratierte Auswahl bevorzugt, sollte den fünf »Meistertouren« folgen. Die belgische Nordseeküste ist Schauplatz der Tour »Meister am Meer«. Auf Künstler*innen übt das Meer mit seiner grandiosen Weite und dem Spiel der Wellen eine besondere Faszination aus.
Das gilt besonders für James Ensor – unter den flämischen »Meistern am Meer« wohl der Berühmteste. Seiner Heimatstadt Ostende hielt der Maler zeitlebens die Treue – auch dann, als der Meister der Masken und Skelette international gefeiert wurde. So macht es Sinn, dass sich eine der vielen Ausstellungen, die in diesem Jahr zum 75. Todestag des Künstlers gezeigt werden, der Liebe zu seiner Heimat widmet: »Ostende, Ensors imaginäres Paradies« ist bis Ende Oktober in den Venezianischen Galerien an Ostendes Strandpromenade zu sehen.
Ein Jubiläum rückt auch Paul Delvaux noch stärker in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit des Kunstbetriebs, als das ohnehin permanent der Fall ist. Der belgische Symbolist und Surrealist, dessen Malerei sich auszeichnet durch traumverlorene Szenen, klassische Architektur und subtile Erotik, starb 1994. Wegen des 30. Todesjahres richtet sich der Blick in diesen Wochen verstärkt auf das Paul-Delvaux-Museum in Koksijde, das ebenfalls auf der »Meister am Meer«-Route liegt. In dem ursprünglichen Fischerhäuschen lebte der Künstler John Bakker bis 1930. 1982 erwarb die Stiftung Paul Delvaux das Haus, um dort ein Museum einzurichten. Hauptattraktion ist das geheimnisvolle Bahnhofsbild »La Gare forestière«.
Mit Ensor und Delvaux ist die Gilde der »Meister am Meer« noch längst nicht erschöpft. Das Atelier des Künstlers Luc Peire (1916–1994) in Knokke ist allemal einen Abstecher wert. Gleiches gilt für das Permeke-Museum in Jabbeke: Das Landhaus »Die vier Winde«, erbaut 1928, diente dem vom Kubismus beeinflussten Maler Constant Permeke bis zu seinem Tod im Jahr 1952 als Wohn- und Schaffensstätte.
Wer gezielt flämische Kunst des Mittelalters, der Renaissance und des Barock ansteuern will, dem sei die »Sammlung der Meister« empfohlen. Warum der Van-Eyck-Nachfolger Dierick Bouts zu den herausragenden Persönlichkeiten der Stadtgeschichte von Löwen gehört, erfährt man hier ebenso, wie die Lebensmittelpunkte von Pieter Bruegel dem Älteren (Brüssel) oder Rubens (Antwerpen) beleuchtet werden.
Den Künstler*innen bei der Arbeit gleichsam über die Schulter schauen, dazu bietet die Meistertour »Künstlerhäuser« reichlich Gelegenheit. Von Westen nach Osten, von Knokke bis Genk verläuft der Trip. Hierbei kann man mehrere Atelierbesuche kombinieren, um auf diese Weise möglichst intensiv in die authentische Welt der Künstler*innen einzutauchen.
Was nützen die schönsten Kunstorte, wenn sie sich nur schwer und auf Umwegen erreichen lassen? Hier kann »Flämische Meister in situ« mit einem weiteren Plus aufwarten: Alle Sehenswürdigkeiten der Touren sind durch ein dichtes Verkehrsnetz erschlossen und eignen sich zudem als Anlaufstationen fürs Radfahren und Wandern. Das ist das Schöne bei einem kleinen Nachbarland wie Belgien: Flanders Kunstlandschaft liegt gleichsam vor der Haustür.
»Flämische Meister in situ«