Eine ganz eigene Welt: Kirill Serebrennikow widmet sich in seiner Kreation »Legende« dem armenischen Filmemacher Sergey Paradjanov.
Die ideale Ausdrucksform von Krill Serebrennikov ist das Manifest, als Protestnote und Pathos. »Was sonst wäre der Sinn, Theater oder Filme zu machen, wenn nicht das zu behaupten, was einen bewegt. Was ich ausdrücke, muss mit Notwendigkeit zu tun haben.« Der russische Dissident, Sohn eines jüdisch-russischen Vaters und einer ukrainischen Mutter, der sich »als Kind der Perestrojka« der 1990er Jahre betrachtet, war wegen angeblicher finanzieller Unregelmäßigkeiten an seinem Moskauer Theater, dem Gogol-Zentrum, strafrechtlich verfolgt und unter Hausarrest gestellt worden, bevor er 2022 nach Deutschland flüchtete und in Hamburg am Thalia Theater Heimat fand. In seinen Bühnenarbeiten und Filmen produziert der 54-Jährige das Gegengift zu dem verheerenden Serum, mit dem Putin sein Volk narkotisiert und aufputscht.
Zwei Beispiele von Serebrennikovs ‚Manifestationen’: »Le nozze di Figaro« hatte vor wenigen Monaten an der Komischen Oper in Berlin Premiere. Der Kontrast zwischen Herrschaft und Knechtschaft ist darin scharf gestellt, der Titelfigur droht Folter. Eine ärmliche Frau putzt das Souterrain, wo Figaro und Susanne waschen und bügeln. Figuren werden verdoppelt, Spiegel blitzen auf, verwischen Perspektiven, verzerren Identitäten; dem Libretto ist ein kritischer Diskurs über Simulation und Fiktionen implantiert. Klassenverhältnisse, politische Konflikte, soziale Gewalt: Mozart als akute Lebenswirklichkeit.
Was denn sonst! Ihm täten, sagt Serebrennikov, die alten Klassiker leid. »Zu ihrer Entstehungszeit waren sie Bomben, die die Gesellschaft zerrissen haben. Beaumarchais’ ‚Figaro’ schrieb den Prolog zur Französischen Revolution. In Mozarts Musik ist diese Dringlichkeit noch zu hören. Heute werden diese Stücke und Stoffe zur mittleren Unterhaltung.«
Zweites Beispiel, das mentale und emotionale Mittellagen aufbricht: »Barocco«. Wir sehen in der Produktion, die noch in Russland herausgekommen und in Hamburg neu erarbeitet worden ist, einen Häftling wie Figaro: ein bezaubernder Pianist, in Handschellen am Klavier sitzend, gekettet an einen düsteren Schergen. Die Musik an diesem sich wie eine barocke Perle unregelmäßig buckelnden, Symmetrie umbiegenden Abend spendet ein Gegenglück mit Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Der barocke Vanitas-Gedanke wetteifert mit dem Prunk der Sinnenlust. In dem orgiastischen »Barocco« findet auch der Student Jan Palach Erwähnung, der sich 1969 aus Protest gegen die Unterdrückung durch die Sowjetunion und die Beendigung des Prager Frühlings öffentlich verbrannt hat. Überhaupt, Feuer scheint das Element Serebrennikovs zu sein.
Aus seiner künstlerischen Wunderkammer steigen Dämonen und Schattenwesen, (Alb-)Traumbilder und Künstlerfiguren in ihren Selbstbefragungen und Kunstkrisen, wachsen Höllenspaß und Blüten des Bösen, werden Licht, Körper und Musik wirbelnd zum Tanzen gebracht. Das Dunkle bedrängt das Helle wie in seinen Inszenierungen von Gogols Erzählung »Der Wij« und Tschechows Novelle »Der schwarze Mönch«.
Nun gibt es bei der Ruhrtriennale etwas ganz Anderes – auf den ersten Blick: »Legende« nimmt Bezug auf die grandiose Filmbildwelt des Sergey Paradjanov. Serebrennikov gestaltet selbst Geschichts- und Zeit-Räume, auch in seinen Filmen, aktuell dem jüngst in Cannes präsentierten »Limonow« über den russischen Exilschriftsteller und Politiker, der nach dem Ende der UdSSR eine nationalistische Partei gründete und die Annexion der Krim bejahte. An ihm habe den Regisseur interessiert, »was aus einem Revolutionär nach einer gescheiterten Revolution« würde.
Sergey Paradjanov (1924-1990) ist ein Großmeister des Weltkinos, ein Kreator mundi. Die Augen gehen einem über angesichts der Schönheit, aufgelöst in artifiziell theatralische, fantastische und der Frömmigkeit geschuldete Tableaus, die an mittelalterliche Ikonen erinnern. Einstellungen wie Stillleben, jede Momentaufnahme ein Stückchen gefrorener Ewigkeit, die dem stets anwesenden Tod abgetrotzt wird. Melancholie und Sehnsucht durchzieht die epischen Erzählungen und die wilde Erhabenheit der Natur. »Die Farbe des Granatapfels« von 1969 etwa hat betörende Szenen: ein Junge, schon als Kind Poet, liegt auf einem Klosterdach, um ihn her sind Bücher über Bücher ausgebreitet, deren Seiten der Wind aufblättert; eine Gruppe junger Mönche, die jeder in die rote Frucht des Granatapfels beißen; Herden von Schafen, die einen aufgebahrten Toten wie für ein Requiem als pelzige Hülle umdrängen. Paradjanov malt Innenwelten mit der Kamera aus, als sei sie ein Pinsel.
Ein Mensch mit mehreren Identitäten
Serebrennikov zählt Einflüsse dieser sich zum Gesamtkunstwerk fügenden Welt auf: »osteuropäische Tradition, persische Miniaturen, Mosaiken aus Pompei, Stummfilme, Erinnerungen an seine Kindheit in Tiflis, die Muster von Teppichen, klassische Musik, Verdi und Puccini, georgische Bergwelt-Volkslieder.« Zugleich betont er ihren Aspekt der »Konstruktion«, erläutert mit Blick auf Paradjanovs Biografie: »Er hatte mehrere Identitäten, armenisch, georgisch, ukrainisch, russisch, aber sie waren nicht ethnografische Realität für ihn. Er hat eigentlich diese Identitäten erfunden. Für ihn war es eine Konstruktion: wie wenn wir den Science-Fiction-Film ‚Dune’ anschauen.«
Wenn Serebrennikov von Paradjanov spricht, dann rede er auch über sich selbst: »Ich projiziere das auf mich und meine Geschichte und auf meinen Wunsch, selbst so zu sein.« Radikal, total. Für ihn gehöre Paradjanov »zu der Generation, die sich mehr erlaubt hat als andere«. In Deutschland rechne er den zwei Jahrzehnte jüngeren Fassbinder dazu.
Und welche »Legenden« wird er erzählen? Serebrennikov: »Ich nehme Paradjanov, um allgemein über Kunst und Künstler sprechen, über das Verhältnis des Menschen zum Universum und über das Mysterium von Leben und Tod.« Es würden zehn Legenden über diverse Sujets gezeigt, die alle in Verbindung stünden zum Kosmos von Paradjanov bzw. erzählt werden mit den Mitteln, die wir von ihm kennen. Allerdings ginge es nicht darum, seine Bilder zu reproduzieren, sondern zu versuchen, seine Perspektive einzunehmen. »Von ihm, der von Schönheiten abhängig ist wie von einer Droge.«
Was aber meint Schönheit? Kirill Serebrennikow sagt dazu, dass es nicht um die optisch reine Schönheit ginge, die sei kleinbürgerlich, konformistisch – die führe zu Ikea. Sondern um die Schönheit eines Paradox’, die Schönheit als geradezu ätzende Freiheit und Mut, Kunst aus dem zu machen, was einem gefalle und wichtig sei: »Paradjanov hat auf die Regeln geschissen. Dieser Freisinn brachte ihn in Konflikt mit dem Sowjetstaat.«
17., 18., 20. bis 23. August
Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord