Ruhrtriennale-Intendant Ivo Van Hove im Gespräch – über Vorbilder und Einflüsse, den Einzelnen und das Soziale als starkes Motiv seiner Regiearbeiten, über die 1970er Jahre, über PJ Harvey und Sandra Hüller.
kultur.west: Sehnsucht nach Morgen, das ist Ihr Motto für das Festival. Das sagt sich poetisch sehr schön. Was bedeutet es konkret für Sie?
IVO VAN HOVE: Sehnsucht richtet sich gewöhnlich auf Vergangenes als etwas Verlorenes. Darin liegt Schönes und Schreckliches, weil es sich auf etwas bezieht, was es nicht mehr gibt. Aber es kann auch Richtung Zukunft gehen: als Hoffnung, dass etwas neu geschieht. Für mich ist die Verbindung zwischen beidem, Vergangenheit wie Zukunft, wichtig gewesen, ohne zu vergessen, heute zu leben, dabei aber zu erkennen, dass man ein Produkt der Vergangenheit ist. Von Einflüssen, Erfahrungen, Begegnungen. Man sollte nicht meinen, sich selber erfinden zu können. David Bowie hat das Lied Changes geschrieben. Dieses Suchen nach Neuerfindung – und Verbesserung – wohnt dem Menschen inne.
kultur.west: Sie haben für die Ruhrtriennale 2015 bis 2017 drei Romane von Louis Couperus inszeniert, in denen sich immer auch der Kampf des Menschen gegen das Fatum und für das Leben vollzieht. Schicksalsmacht spielt in Ihren Arbeiten eine wichtige Rolle und inwiefern man ihr nicht unbedingt ausgeliefert sein muss.
VAN HOVE: Fatalismus wäre das Furchtbarste. Zu denken: Ach, weshalb noch etwas tun, es hat doch keinen Sinn. Nein. Ich glaube, die Suche nach dem Sinn ist existentiell, ob man ihn im Kleinen oder im Großen findet. Couperus hatte ein Gespür für das, was uns Angst macht, das Altwerden zum Beispiel. Was wir in der für mich schönsten Adaption, in »Die Dinge, die vorübergehen« gezeigt haben.
kultur.west: Sehnsucht nach Morgen enthält auch das praktizierte Ideal anderer Lebensentwürfe und Formen des Miteinanders. Ich denke dabei an die Filme von Almodóvar oder Ozon, bei denen deren eigene queere Existenz den Blick schärft; sensibilisiert für andersartige Modelle, die sich auch in Ihrem Festivalprogramm finden.
VAN HOVE: Das stimmt. Zum Beispiel »The Fagotts and their Friends …« erzählt von einem neuen Weltentwurf, von Veränderung, aber als sanfte Revolution, nicht brutal. Das setzt sich darin auch im Formalen fort. Das Spielen ist ganz frei; es wirkt wie nicht-inszeniert, als sei es eine einzige Improvisation, eine Kreation aus dem Moment.
kultur.west: Wo Sie von Form sprechen. Ich würde Sie als Regisseur im Spannungsfeld von Tradition und Avantgarde verorten, als jemanden, der wie die New York Times schrieb, aus dem Kontrast »Maximalist – Minimalist« arbeite. Es gibt weitere Begriffspaare: Distanz und Pathos, kühle Anschauung und das gesteigerte Klima des Melodrams, Textgenauigkeit und Textzerlegung, wobei sich die Bühne häufig als künstlicher Schauplatz darstellt, als antiillusionistische Kulisse und Installation. Sie verbinden gegenläufige Elemente.
VAN HOVE: Das war von Anfang so. Ich war um die 20 in den späten 70er, frühen 80er Jahren. Eine seltsame Zeit. Wir erlebten den Schock der Aids-Krise, haben das zuerst nicht verstanden und nicht danach gelebt. Homosexualität in Belgien war rechtlich zulässig, aber nicht wirklich akzeptiert, es gab viel Widerstand dagegen. Ich weiß, seit ich elf war, dass meine sexuelle Orientierung sich auf Männer richtet. Aber man sagte mir, das ginge vorbei. So war diese Zeit! Die Kunst in Belgien war ebenfalls sehr bürgerlich – mir hat sie nichts bedeutet. Filme waren damals meine Inspiration, Fassbinder etwa, der ebenfalls den kalten Blick und das heiße Herz besitzt; auch die Filme von Douglas Sirk. In Brüssel sah ich eine Performance, die mich so mitgenommen hat, dass ich tatsächlich krank wurde, Fieber bekam, weggehen musste. Ich habe auch Bob Wilsons Inszenierung mit dem autistischen Christopher Knowles gesehen, der keine klaren Worte sprach, aber sie haben wunderbar auf andere Weise über Töne und Schreie kommuniziert. Ich bin Kind dieser Zeit und ihrer extremen Kontraste.
kultur.west: Sie nennen auch Patrice Chéreau als ein Vorbild. Er hat im ersten Ruhrtriennale-Jahr von Gerard Mortier Racines »Phädra« produziert. Sie zeigen nun Racines »Bérénice« mit Isabelle Huppert, die ebenfalls mit Chéreau gearbeitet hat.
VAN HOVE: Das ist Zufall. Ich habe selbst schon mit Huppert gearbeitet, wusste von dem »Bérénice«-Projekt und habe Romeo Castelluccis Aufführung direkt als erstes eingeladen. Von Chéreau konnte ich viel lernen: wie man inszeniert, wie man Auftritte und Abgänge auf der Bühne gestaltet. Das ist sehr entscheidend: Wie man das tut!
kultur.west: Film interessiert Sie sehr, Sie haben Stoffe von Antonioni, Bergman, Cassavetes, Pasolini, Visconti inszeniert; allesamt Künstler, die das Erforschen von Leidenschaft und psychischen Konflikten und das Analysieren dieser Zustände beschäftigt.
VAN HOVE: Meine Wahl von Texten ist bestimmt von deren Intensität, wo großer Druck spürbar wird, meistens sozialer Druck. Es geht nicht allein um Psychologie. Das Soziale ist ein starkes Motiv bei mir, immer gewesen, das vergisst man manchmal. Wie verwirklicht sich ein Individuum, wie erkämpft es sich seine Position in einer Umgebung, wo Vorurteile, Abwehr, Feindseligkeit herrschen gegenüber dem, was einem fremd ist? Deshalb liebe ich Arthur Millers Dramen auch. Vor kurzem habe ich das Musical »Jesus Christ Superstar« gemacht, da geht es um dasselbe: Jesus will etwas erreichen, das von der Gesellschaft und ihren Repräsentanten nicht akzeptiert und geahndet wird bis zum Kreuz. Die Masse dabei ist wankelmütig, ihr ist nicht zu trauen. Denken Sie an Prometheus, der den Menschen das Feuer gibt und dafür verurteilt und gefoltert wird von Zeus und beinahe stirbt. Das ist mein Thema.
kulturwest: Der Junge Ivo kannte diesen Kampf. . .
VAN HOVE: Ich bin in einem 2000-Seelen-Dorf aufgewachsen, wo zum Einen Bauern lebten und andererseits Bergleute, viele sogenannte Gastarbeiter aus Italien. Ich war der Sohn des Apothekers, war nie akzeptiert, gehörte zu keiner Gruppe, fühlte mich heimatlos, bis meine Eltern mich aufs Internat schickten, einem sehr guten, 60 Kilometer entfernt. Dort hat das Leben für mich angefangen. In den sechs Jahren habe ich das ganze Leben bereits einmal gelebt mit allem: Gewalt, Freundschaft, Schmerz, als mein engster Freund durch einen Unfall zu Tode kam. Ich habe ein Jahr getrauert, niemand hat mir helfen können und mich verstanden. Dort habe ich mich selbst gefunden. Auch darin, dass ich spürte, ich kann Menschen lenken, motivieren, inspirieren. Ich habe dort auch in Theaterstücken auf der Bühne gestanden. Diese Schule hat mich befreit. Ich konnte mich zeigen, wie ich war.
kultur-west: Ihr Festival-Programm sucht die Balance herzustellen zwischen sozialer Einordnung und politischem Engagement und der Frage nach individueller Glückserwartung –
VAN HOVE: Das stimmt total. Für mich sind gegenwärtig drei Themen bestimmend in der Welt und reflektieren in die Künste hinein: Identitätspolitik, vergleichbar den 70er Jahren; dass man sich zeigen möchte, wie man sich fühlt und sich dafür nicht schämen muss. Darin enthalten ist auch die Illusion, jemand könne exklusiv sie oder er selbst sein; aber man hat sich nie selbst gemacht, auch wenn dieser autonome Anspruch erstrebt wird. Zweitens, dass Gewalt wieder zum Mittel der Politik und zur Waffe geworden ist und Einfluss nimmt auf Mentalität und Verhalten des Einzelnen. Das Dritte ist unser Verhältnis zur Natur – wie kommen wir da zu einem Gleichgewicht.
kultur.west: Ihre Eröffnungspremiere bringt Songs von PJ Harvey mit der Schauspielerin Sandra Hüller als deren Interpretin zusammen. Wie ist dieser zweifache Kontakt entstanden, und was verbindet in Ihren Augen Harvey und Hüller?
VAN HOVE: PJ und ich kannten uns schon vor unserer Zusammenarbeit für meine Inszenierung von »All about Eve« in London.
kultur.west: …einem Filmstoff über das Wesen einer Schauspielerin und der Unerbittlichkeit, mit der sie für die Karriere das Leben opfert –
VAN HOVE: Genau. PJ war einverstanden, dass ich mit ihren Liedern den Abend »I want absolute Beauty« gestalte. Die Songs, die ich ausgesucht habe und die ihre gesamte Karriere überspannen (mit Ausnahme des letzten Albums), werden zu einer Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Sehr persönliche Lieder, aus dem eigenen Erleben oder der Sehnsucht nach etwas, das sie erleben möchte. Über ihr Leben im englischen Dorset etwa, über ihre Mutter und Großmutter, wohin es sie immer noch zieht. Sie sind ihr Ausdruck und vermitteln ihr Verhältnis zur Welt, darin ist sie mit Bowie vergleichbar. Auch PJ stellt von Album zu Album eine neue Figur dar: eine Rolle aus sich heraus, vermittelt auch über ein Kostüm. Aber sie bleibt sie selbst in wechselnder Gestalt. Ohne Lüge und ohne Effekt um seiner selbst willen. PJ meinte, als wir über die Darstellerin sprachen, es sei nicht notwendig, gut singen zu können. Aber es muss direkt sein, darf keine Show sein. Ich habe gleich an Sandra Hüller gedacht.
kultur.west: Die Sie ebenfalls kannten. Erinnern Sie sich an die erste Begegnung mit ihr?
VAN HOVE: Sandra in Nanouk Leopolds Film »Brownian Movement« von 2010, der ein bisschen wie ein Antonioni-Setting ist. 2013 habe ich dann mit ihr in München Eugene O`Neills »Seltsames Intermezzo« inszeniert.
kultur.west: Sie ist eine Schauspielerin, deren Geheimnis darin besteht, dass sie so klar zu sein scheint und wir ihr dennoch nie auf den Grund sehen. Die ihrer Intuition zu folgen scheint, in ihrer Selbstkontrolle absolut, aber in ihrer Emotion nicht auszuloten ist. VAN HOVE: Gut beschrieben. Ideal für PJ’s Lieder, in denen der Blick nicht nur nach innen geht, sondern ebenso nach außen. Das möchte ich zusammenbringen: das Individuelle und das Gesellschaftliche.
»I Want Absolute Beauty«: Uraufführung am 16. August in der Jahrhunderthalle Bochum
wieder am 17., 18., 22. bis 25., 30. August
Zur Person
Ivo Van Hove, geboren 1958 in belgischen Heist-op-den-Berg, begann 1981 seine Karriere. Er war unter anderem Künstlerischer Direktor der Toneelgroep Amsterdam (heute: International Theater Amsterdam) und auch des Holland Festival. In mehr als vier Jahrzehnten entstand eine gewaltige Zahl an Inszenierungen für das Sprech- und Musiktheater, darunter in London, Madrid, Paris und New York, in Berlin, Hamburg und München ebenso für Festivals wie Avignon, Edinburgh und Wien. Seit 1980 ist der Bühnenbildner Jan Versweyveld sein Lebenspartner.