… ist die Zukunft der Gedenkstätte Stalag 326. Ich bin selbst ja schon vor 50 Jahren auf dem Gelände herumgekurvt – und zwar mit dem Kettcar. Mein Vater war Ausbilder an der Polizeischule, die seit 1970 hier auf dem Areal des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers existiert. Wenn ich da mit meinem roten Kinderflitzer angebraust kam, haben sich die Polizisten oft ’n Spaß gemacht, vor mir salutiert und gerufen: »Der Sohn vom Nickel kommt!«
Seitdem kenne ich auch die Kriegsgefangenenbaracken, allerdings haben da in meiner Kindheit Familien drin gewohnt, auch einige meiner Freunde. Mir hat damals aber keiner gesagt, dass da mal Gefangene untergebracht waren. Ich weiß auch nicht, ob ich das in dem Alter begriffen hätte. Das gilt genauso für den Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter, der ist einen guten Kilometer vom früheren Lager entfernt. Den kannten wir Kinder zwar gut, aber wir – das hört sich heute komisch an – wussten damals nicht, dass unter der schönen, großen Wiese Massengräber sind. Wir sind da halt hin, wenn wir mal Ruhe vor den Eltern haben wollten, denn da war nie jemand.
Ein echtes Bewusstsein für das Areal habe ich erst viel später entwickelt, am Ende meines Geschichtsstudiums. Nur ein paar Tage vor Abgabe meiner ursprünglich geplanten Magisterarbeit hatte mich ein Professor angesprochen, der an einer Publikation zum Lager arbeitete: »Du kommst doch aus der Ecke hier, fahr‘ doch mal da hin und schreib‘ einen kleinen Artikel.«
Auf einer Friedhofskarte habe ich eine Gräberreihe entdeckt, die ich nicht kannte. Da sind Säuglinge und Kinder begraben, aber auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiterinnen.
Oliver Nickel
So kam ich zu einem neuen Thema für meine Abschlussarbeit. Damals gab es bereits den Förderverein für die Gedenkstätte, dessen Leiter Werner Busch das ehrenamtlich machte. Der hat mich dann ziemlich geschickt immer weiter in die Arbeit reingezogen. Zu der Zeit war ich am Kreismuseum Wewelsburg beschäftigt, aber nicht in Vollzeit. Und Busch meinte: »Du hast doch Ahnung, du hast sogar deinen Magister über den Ehrenfriedhof geschrieben. Da kannst du doch auch mal ein paar Stunden im Büro machen oder Führungen.« Erst hat er mich in den Verein geholt, später in den Vorstand und irgendwann, da war er schon weit über 80, hat er mich schließlich gefragt, ob ich seinen Job übernehmen möchte. Das hab‘ ich eine Zeit lang ebenfalls ehrenamtlich gemacht, aber irgendwann ging das nicht mehr. 2019 haben wir dann als gesamter Vereinsvorstand hinbekommen, durch eine Kofinanzierung aus verschiedenen Töpfen eine volle Stelle für mich einzurichten. Heute gibt es anderthalb weitere, zum Teil befristete Stellen, alles andere ist Ehrenamt. Meist sind es ehemalige Lehrer*innen oder Historiker*innen, die leisten zusammen mehr als 2000 Stunden pro Jahr. Und das, obwohl wir vor allem wegen der wenigen Mitarbeiter nur ein paar Mal im Monat öffnen können. Dass ich heute immer noch hier bin, damit habe ich natürlich nie gerechnet – und auch nicht damit, dass man über eine derart umfangreiche Neukonzeption nachdenkt. 2015 hatte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck beim 70. Jahrestag der Lagerbefreiung hier eine große Rede gehalten. Aus der stammt das berühmte Zitat, dass man die sowjetischen Kriegsgefangenen »aus dem Erinnerungsschatten holen« sollte. Von da an hat die Politik vor Ort darüber nachgedacht, wie man das angehen könnte, und der hiesige Landtagsabgeordnete und Parlamentspräsident André Kuper hat sich der Sache angenommen. Allerdings wurde erstmal alles viel kleiner gedacht. Die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe hat dafür mehrere Optionen untersucht: Verlässt die Polizei mit ihrem Ausbildungszentrum das Gelände, oder verlassen wir das Gelände und bauen woanders eine neue Gedenkstätte? Das wäre schade gewesen, selbst wenn von den 200 Gebäuden des ursprünglichen Lagers heute nur noch drei übrig sind: Die sogenannte Entlausung, der mit Abstand größte Bau, sowie eine Arrest- und eine weitere, zwischenzeitlich umgebaute Baracke. Die wollte man natürlich alle nutzen, aber das Konzept in der jetzigen Größenordnung ist erst entstanden, als der Landschaftsverband Westfalen-Lippe dazugestoßen ist. Danach kamen Zusagen von Bund, Land und vom LWL selbst, und auf einmal war das ein 60-Millionen-Euro-Projekt. Eine Gedenkstätte dieser Dimension können wir als kleiner Verein, der hauptsächlich vom Ehrenamt lebt, allerdings nicht betreiben. Dafür soll eine eigene Stiftung gegründet werden, in die wir uns aber natürlich mit unseren Kenntnissen und Erfahrungen einbringen wollen.
Zum einen haben wir ja mehr als 500.000 Dokumente im Archiv, alleine 3000 Bücher, und bis heute erreichen uns auch jährlich Hunderte von Anfragen nach dem Schicksal einzelner Insassen, oft von Angehörigen. Mir selbst ist vor allem wichtig, dass wir uns in einer neukonzipierten, großen Gedenkstätte weiter die Zeit nehmen, um mit Jugendlichen in Ruhe und vernünftig zu arbeiten. Diese ein- bis zweistündigen Führungen, die man üblicherweise macht, haben nämlich eigentlich keinen Wert. Ich habe hier schon wunderbare Erlebnisse mit Schüler*innen gehabt, wo ich nur einen kleinen Anstoß geben musste, und die waren Tage, manchmal sogar eine ganze Woche mit dem Thema beschäftigt. Die tauchen dann ganz tief ein, mit tollen Ergebnissen. Und man sollte die jungen Menschen auch selbst fragen: Wie stellt ihr euch eigentlich eine Gedenkstätte vor? Wir Älteren glauben ja immer zu wissen, wie man mit Jugendlichen arbeitet, aber das ist der größte Fehler. Die haben ihre ganz eigenen Zugänge oder Fragen. Eine, die mir schon mehrfach gestellt wurde, lautet: »Warum gibt es hier eigentlich keinen Raum, in dem wir unsere Emotionen und Wünsche künstlerisch ausdrücken können?« Wir hatten schon Schüler*innen hier, die haben bewegende Gedichte geschrieben und auch vorgetragen. Man muss auf die jungen Menschen nur zugehen und sie fragen. Denn für die und deren künftige Erinnerungskultur machen wir das hier ja alles.
Aufgezeichnet von Peter Grabowski
Name: Oliver Nickel
Alter: 55
Beruf: Historiker, Geschäftsführer des Fördervereins und Leiter der Gedenkstätte Stalag 326
Wohnort: Bielefeld
Oliver Nickel leitet die Gedenkstätte »Stalag 326« in Schloß Holte-Stukenbrock, die an eines der größten Lager für sowjetische Kriegsgefangene zwischen 1941 und 1945 auf deutschem Boden erinnert. Im Laufe der vier Jahre waren mehr als 300.000 Kriegsgefangene hier untergebracht. Die seit 1996 ehrenamtlich betriebene Gedenkstätte soll für mehr als 60 Millionen Euro zum größten Erinnerungsort an den Zweiten Weltkrieg in NRW ausgebaut werden. Nach einem mühsam ausgehandelten Kompromiss über die Betriebskosten zwischen den am Projekt beteiligten Städten und Kreisen in der Region stehen in der zweiten Jahreshälfte nun die endgültigen Beschlüsse für den Bau an.