Die Ausstellungssäle bleiben Mitte Mai noch geschlossen. Doch im Foyer verspürt man zwei Wochen vor der großen Wiedereröffnung schon so etwas wie geschäftige Vorfreude. Eine gewisse Nervosität gar – vor allem hinter dem Tresen, wo sich eine Handvoll bemühter Mitarbeiterinnen bei einer Schulung mit dem neuen Kassensystem herumschlägt. Gleich daneben steht die Tür offen zum Direktorinnen-Büro, drinnen wartet Stefanie Kreuzer, die den Endspurt eher gelassen angeht, wie es scheint.
Immerhin war das Museum sechs Jahre geschlossen. Eine lange Zeit, in der das 1897 für die Hauptpost errichtete Haus klima- und brandschutztechnisch auf den neuesten Standard gebracht wurde. Die Sanierung lag in den letzten Zügen, als Kreuzer letzten Oktober die Leitung übernahm. In Mülheim ist sie also recht neu, doch in NRWs Museumslandschaft bei weitem keine Unbekannte. Lange Zeit war die 1966 geborene Kunsthistorikerin Kuratorin am Museum Schloss Morsbroich und hat sich mit vielen Ideen und bemerkenswerten, oft ungewöhnlichen Ausstellungen hervorgetan. 2020 wechselte sie dann nach Bonn und überzeugte als Ausstellungsleiterin mit Projekten wie zuletzt »Menschheitsdämmerung«, wo Kreuzer Werke der Klassischen Moderne mit zeitgenössischen mischte und so Parallelen zwischen der gesellschaftlichen Situation und Verfasstheit vor 100 Jahren und heute aufspürte.
Nun also ist sie glücklich in Mülheim gelandet. Was hat sie aus dem Rheinland hierhergezogen? Aus einem großen Haus an ein kleineres, vom Posten der Ausstellungsleiterin auf den Chefsessel? Da muss Kreuzer nicht lange überlegen: »Noch einmal den Schwung des Anfangs mitnehmen«, das habe sie gereizt. »Das Museum war zu lange geschlossen, als dass man sagen könnte: Ich führe die Arbeit meiner Vorgängerinnen weiter.« Vielmehr müsse man jetzt versuchen, das Haus neu zu definieren und neu zu platzieren in der Museumslandschaft, die in NRW ja sehr dicht sei.
»Wo wollen wir hin, was wollen wir sein als Institution im 21. Jahrhundert?«, diese Fragen seien jetzt wichtig. »Welches sind unsere Communities, unsere Nachbarschaften? Mit wem können wir in Austausch gehen?« Zu Kreuzers ersten Amtshandlungen zählte darum der Antrag bei der Leonard-Stinnes-Stiftung für die Schaffung einer Volontärs-Stelle. Seit April ist Ana Kutateladze an Bord und kümmert sich um den Bereich Kommunikation und Outreach – neue Publikumsgruppen ins Boot zu holen, ist längst ein zentrales Ziel nicht nur von Museen. Kreuzer denkt etwa an Projekte mit Frauenhäusern, auch mit Frauencafés. Sie plant spezielle Themen-Führungen durch die aktuelle Ausstellung – eine mit dem Schwerpunkt Feminismus, eine andere rund um den Begriff Demokratie. Nicht zu vergessen Formate für Menschen mit Demenz…
Pläne über Pläne, Kreuzer hat sicher noch mehr davon in petto. Doch mittlerweile ist man in der Ausstellung angekommen und sie schaltet rasch auf Banz & Bowinkel um. Denn das Künstlerduo wird mit einer Augmented-Reality-Arbeit einziehen – beim Blick auf das Display von Tablet oder Handy soll man geometrische Körper im Raum schweben sehen und könnte Ähnlichkeiten erkennen mit einem abstrakten Gemälde von Wassily Kandinsky, das weiter hinten in der Ausstellungshalle hängt.
Lange bevor Kreuzer in Mülheim an der Ruhr startete, hatte man im Museum bereits den Plan gefasst, zur Wiedereröffnung die eigenen Schätze auszubreiten, zu zeigen, was das Haus alles zu bieten hat. Teil eins der Schau in den einstigen Pakethallen unten im Haus fährt Werke der Klassischen Moderne auf – gemischt aus städtischem Besitz und aus der hauseigenen Stiftung Sammlung Ziegler. Brücke, Bauhaus, Blauer Reiter für Genießer: bunte Blumen von Nolde, Macke in Tunis, ein schlafendes Reh von Franz Marc, Klees blühender Garten, kristalline Architekturen von Feininger. Hier ließe es sich aushalten, doch Stefanie Kreuzer zieht es weiter hinauf – da wartet Teil zwei der Präsentation mit überwiegend jüngerer Kunst.
Im Treppenhaus kommt man auf den schicken, doch etwas rätselhaften Ausstellungstitel zu sprechen: »Im Herzen wild«. Was hat Kreuzer sich dabei gedacht? »Das Herz ist die Sammlung des Hauses – der Herzschlag die Emotion«, erklärt sie. »Die Kunst ist ja, was das Haus ausmacht.« Und warum wild? »Wild ist die Kunst, weil sie Regeln bricht, weil sie uns herausfordert, unser Denken zu überprüfen, weil sie weniger Antworten gibt, als Fragen aufwirft – nicht selten ist sie das Wilde, das uns aus der Komfortzone herausholt.«
Nun noch schnell durch den Grafik-Raum vorbei an Arbeiten des Milieu-Chronisten Heinrich Zille (1858-1929) und seines Zeitgenossen Théophile-Alexandre Steinlen – dann hat Kreuzer ihr Ziel erreicht: Hier fühlt sie sich offenbar am wohlsten: zwischen den Zeitgenossen aus der eigenen Sammlung, die immer wieder Verstärkung durch Leihgaben bekommen. Der grelle Kauz in Uwe Hennekens Gemälde hat sein großes Bündel geschultert. Startklar steht er auf einem Hügel, dahinter öffnet sich der Blick in die Landschaft. »Auf zu neuen Horizonten« heißt das Ausstellungskapitel, in dem auch Roy Lichtensteins »Landscape 4« mit einem stilisierten Sonnenuntergang über einem Meer aus Rasterpunkten seinen Platz findet.
Nebenan geht es um »Anlitz und Aura«. Hier hat Kreuzer ihre Freude an einer Gruppe verrückter Figuren, die ganz aktuell wirken, allerdings schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben und nun endlich einmal aus dem Depot herausgekommen sind. Geformt hat sie die 1929 geborene Ilse Otten – eine Künstlerin, die Zeit ihres Lebens in Mülheim zu Hause war, doch selbst hier kaum bekannt ist. Noch stehen die fantastischen Wesen auf dem Fußboden, doch die Zeit ist reif, sie auf den Sockel zu heben.
Ein Platz an der Wand ist für Shanon Bools großen Bildteppich reserviert, als Ankauf des Förderkreises ganz neu im Kunstmuseum. »The 33rd Column« heißt die Arbeit der kanadischen Künstlerin, die auf hintergründige Weise die männlich dominierte Moderne bespiegelt: Bool lässt uns in einen Pavillon von Mies van der Rohe blicken, wo sich zu den titelgebenden Säulen, die der Konstruktion des Bauhaus-Meisters Halt geben, zwei Frauenbeine auf hohen Hacken gesellen. Im Kapitel »Sex and Politics« trifft Bools digitale Webstuhl-Arbeit etwa auf die berühmte Siebdruckserie »Flash«, in der Andy Warhol 1963 Medienberichte über die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy verarbeitet hat.
»Man braucht in dieser Präsentation nicht unbedingt die kunsthistorische Einordnung«, bemerkt Kreuzer. »Ich kann mich auch erst einmal einlassen auf die Kunst und schauen, was es in diesem oder jenem Raum zu erfahren gibt.« Ob es knistert in Vivian Grevens großformatiger Inszenierung eines Kusses, der im Kapitel »Lippenbekenntnisse« zusammentrifft mit Dorothee Golz‘ Tasse aus Glasfaserlaminat – die beim bloßen Anschauen schon ein fusseliges Gefühl auf der Zunge hinterlässt.
Ähnlich ambivalent ist der Blick über Rudolf Bellings blanken Kopf in Messing aus den 1920er Jahre hin zu den100 Jahre jüngeren Collagen der Düsseldorfer Künstlerin Anys Reimann. Schiefe Augen, schräge Ohren – die zusammengesetzten Frauen-Gesichter haben etwas Brutales. Und man beginnt sich zu fragen – ist der rote Mund nur dick geschminkt oder vielleicht blutverschmiert? Power auf dem Papier und im Herzen. Wenn es Kreuzer gelingt, den Schwung des Neustarts mitzunehmen, dann ist dem Museum die wilde Zukunft gewiss.