…das zeigen wir am besten selbst. Hier kommen unsere Buchtipps der Redaktion.
Ute Berg ist von Chigozie Obiomas »Der dunkle Fluss« beeindruckt
Der Debütroman des 1986 in Nigeria geborenen Chigozie Obioma, ist eines der Bücher, die mich in diesem Jahr besonders beeindruckt haben. Der Autor erzählt aus der Sicht des neunjährigen Benjamin von verstörenden Ereignissen des Jahres 1996, die in einer Familientragödie enden. Benjamins Familie führt Mitte der 1990er Jahre ein relativ wohlhabendes, aus Sicht der sechs Kinder zunächst unbeschwertes Leben in der afrikanischen Lokal-Metropole Akure – bis zu dem Moment, als sich aus der düsteren Prophezeiung des obdachlosen geistig verwirrten Abulu langsam, aber unausweichlich ein tödliches Drama entwickelt, das die Familie zerstört. Atmosphärisch dicht, mit zahlreichen bildhaften Vergleichen führt Chigozie Obioma in eine Welt, die mich als europäische Leserin des Romans in ihrer Fremdheit einerseits fasziniert hat, in der gleichzeitig aber auch eine universell gültige Wahrheit in Bezug auf Familie und Mensch-Sein vermittelt wird.
Frank Weiffen empfiehlt Kae Tempests »Worauf Du Dich verlassen kannst«
Wer auch nur etwas Wertschätzung für Poesie in sich trägt, muss Kae Tempest verfallen. Schon als Kate veröffentlichte die non-binäre Person aus England Lyrik in schriftstellerischer wie musikalischer Form. Tipp: Das Album »Let Them Eat Chaos« von 2016 ist ein 47-minütiger Ritt durch eine in düstere Beats und Spoken-Word-Reime verpackte Nacht in London, die anhand des Mikrokosmos Metropole all das zeigt, was den Makrokosmos Welt täglich erschüttert: Einsamkeit, Verzweiflung, Exzess, Wut. In Tempests Debütroman »The Bricks That Built The Houses« wird diese Geschichte quasi als Prosa weitergesponnen. Die Sätze sind so wuchtig wie die Punchlines in den Songs. Tempest verbindet die Genres zu einer Geschichte, die mich das Buch in der einen Hand halten lässt, während in meiner anderen der Bleistift im Anschlag darauf wartet, die besten Zeilen irgendwo festzuhalten, damit ich sie mir immer wieder als Parolen vor Augen führen kann. »Jeder ist allein mit sich und seiner Panik (…) Im Radio singt Billy Bragg »A New England«.
Andreas Wilink holt immer wieder Giuseppe Tomasi di Lampedusas »Der Leopard« hervor.
Mit dem Titel fängt es an: »Der Leopard« oder »Der Gattopardo«? Die Pardelkatze ist das Wappentier des sizilianischen Geschlechts Salina und Fürst Fabrizio »Der Leopard«, Letzter seiner Art, der vor dem Hintergrund des Risorgimento Tradition und Anstand repräsentiert und die neue Zeit mit Wehmut, Abscheu, Resignation betrachtet, die sich in seinem Neffen Tancredi und dessen schöner Braut Angelica, Tochter des gerissenen Emporkömmlings Sedàra, liebenswürdig, reizvoll und verachtenswert verkörpert. Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman lernte ich über den Umweg des Kinos kennen, hier ein Königsweg: Viscontis Verfilmung mit Burt Lancaster. Die Schönheit der Bilder, die Idealbesetzung und erzählerische Kraft und dichterische Makellosigkeit sind eins. Immer wieder sehe ich den Film, lese ich den Roman mit seinem vielzitierten berühmten Satz: »Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern«. Als auf die Politik bezogene Formel deprimierend wahr.
Laut Bettina Trouwborst ein Pageturner: »Stay away vom Gretchen«
Ihr Romandebüt geriet der Kölner Regisseurin und Autorin Susanne Abel gleich zum Bestseller. Nein, es ist nicht wie es scheint. Ihre Geschichte über Krieg, Flucht, Heimatverlust und eine Liebe, die nicht sein durfte, ist nicht so tonnenschwer, wie man denken mag. Es gibt in diesem berührenden Werk viele skurrile, witzige Momente. Die ereignen sich mehrheitlich auf der Zeitebene um 2015 des TV-Moderators Tom Monderath in Köln. Der genießt sein Promi-Luxusleben. Nur Mutter Greta, die allmählich der Demenz verfällt, macht ihm Sorgen. Die eigenwillige alte Dame umgibt ein Geheimnis. Um dieses zu lüften, läuft der Journalist im Sohn zur Hochform auf. Die zweite Ebene führt ins Dritte Reich. Durch Gretas Augen und anhand ihrer Familie erleben wir Hitlers Aufstieg und das Elend des Krieges. Dazu folgenreiche Grausamkeiten der Besatzung, von denen wohl die meisten Menschen bis heute nichts ahnen. Abel erhellt Hintergründe von Ereignissen, die man nie begriffen hat. Ein wichtiges Buch. Ein Pageturner, eine Geschichtslektion und ein Plädoyer für Menschlichkeit in einer Zeit florierenden Rechtspopulismus‘.
Max Florian Kühlem liest »Die Nacht unterm Schnee« – (auch) weil er bald Ralf Rothmann trifft
Ich lese gerade »Die Nacht unterm Schnee«, den Roman, mit dem Ralf Rothmann vor zwei Jahren seine Trilogie über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Deutschland abgeschlossen hat. Ich kann mir vorstellen, dass viele, die in der Schule mit deutscher Nachkriegsliteratur gequält wurden, schon beim Gedanken daran innerlich die Augen verdrehen. Aber bei diesem Autor ist natürlich alles anders. Er erzählt leicht verfremdet eine ganz persönliche Geschichte; die seiner Mutter, die während der Flucht aus Danzig vergewaltigt wird, und über eine Station in Norddeutschland schließlich im Ruhrgebiet landet. Rothmanns Art zu erzählen ist wie immer großartig – in kurzen Sätzen entwirft er lebensechte Figuren und eröffnet Welten. Ich bin überaus glücklich, ihn am 15. Mai in meiner Reihe mit Lesungen und Gesprächen im Rathaus Bochum empfangen zu dürfen. Kommen Sie doch dazu!
Zum Caspar-David-Friedrich-Jahr rät Vera Lisakowski zum »Zauber der Stille«
Es ist das Buch zum Caspar-David-Friedrich-Jahr: »Zauber der Stille« von Florian Illies, der als Autor nicht nur ein Gespür für den Zeitgeist hat, sondern auch Kunsthistoriker und Kurator ist und einer der Gastgeber des erfolgreichen Kunst-Podcasts »Augen zu«. Souverän springt er anhand der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft durch die Anekdoten und durch die Jahrhunderte von Friedrichs Kindheit bis zum derzeitigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Den assoziativen Gedanken und sorgfältig recherchierten Faktenfetzen zu folgen ist gleichermaßen anstrengend wie überraschend und macht vor allem wegen Illies‘ geschmeidigem Schreibstil Spaß. Wer eine Biografie von Friedrich erwartet, sollte eher zu der von Boris von Brauchitsch greifen. Aber als atmosphärisches Stimmungsbild zu den Jubiläums-Ausstellungen ist »Zauber der Stille« perfekt.
Katrin Pinetzki ist überrascht von Kim de l’Horizons »Blutbuch«
Vor wenigen Tagen habe ich das »Blutbuch« beendet. Neugierig geworden war ich das Buch, nachdem ich Autor*in Kim de l’Horizon im Podcast gehört hatte. Der Klappentext hielt mich dann aber monatelang davon ab, es zu lesen – ich fürchtete ein literarisches Experiment, dass vielleicht formal interessant, aber kaum inhaltlich spannend oder gar berührend ausfallen würde. Das Gegenteil war der Fall. Die Erzählfigur ist mit einem männlichen Körper geboren, fühlt sich jedoch keinem Geschlecht zugehörig. Der Roman beschreibt die Suche nach der Identität, nach Zugehörigkeit und Abgrenzung von den Vorfahren und der Rolle der Frauen in der eigenen Biografie. Es ist zugleich die Suche nach einer geeigneten Form und Sprache, diese Selbstfindung darzustellen – radikal ehrlich, maximal nah dran, dabei absolut lesbar und erhellend.
Aus der Vergangenheit lernen: Kristina Schulze empfiehlt Lea Ypis »Frei – Erwachsen werden am Ende der Geschichte«
Ich lese gerade »Frei« von Lea Ypi. Die Politikwissenschaftlerin erzählt in dem Buch von ihrer Kindheit im sozialistischen Albanien der 1980er Jahre – und von ihrer Jugend nach dem Sturz des Regimes ab 1990. Mit einem großartigen Gespür für Details schildert sie skurrile Anekdoten aus der Zeit des Sozialismus, in der Coca-Cola-Dosen wie Statussymbole gehandelt und auf dem Schulhof Kaugummipapiere von Wrigleys vertickt werden. Sie beschreibt aber auch, was es bedeutet, in den Wirren eines gesellschaftlichen Umbruchs aufzuwachsen: Ihre beste Freundin verlässt über Nacht das Land und geht in den Westen. Ihre Familie bricht auseinander, im Garten hört sie das Knattern von Kalaschnikows. Für Lea Ypi beginnt eine Zeit der Zweifel: »Du hast gesagt, es ginge nicht darum, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern«, sagt sie einmal zu ihrem Vater. Essayistische Passagen rund um die Frage, was genau Freiheit eigentlich bedeutet, machen das Buch zu einer Empfehlung für alle, die aus der Vergangenheit lernen wollen.
Christoph Vratz liest immer, immer wieder Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
Ein bisschen wie im Himalaya. Es braucht erst Anlauf, und dann folgt das Gekraxel durch schwierige Passagen. Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, zum Dritten. Einmal war ein Bergführer dabei, in Form von Peter Matić als Hörbuchsprecher. Nun ein neuer Aufstieg, von einer anderen Seite mit der dritten Übersetzung. Doch je mehr man mit Combray, mit der »kleinen Phrase«, mit dem Weißdorn-Duft, mit Marcel und Albertine und allen anderen vertraut wird, desto größer das Vergnügen. Es passiert doch über tausende Seiten nichts, heißt es immer wieder. Stimmt nicht: Es geschieht so viel. Und so subtil. Und so raffiniert. Es braucht nur Zeit und Geduld. Beim ersten Mal war ich von der Kulisse erschlagen, ratlos. Beim zweiten Mal hob sich der Nebel erstmals. Jetzt lichtet es sich. Freie Sicht?
Annika Wind verschwindet gern mit Johanna Sebauers »Nincshof«
Ja, etwas schrullig wirkt diese Erna Rohdiebl schon. In einer lauen Sommernacht beginnt die alte Dame, nach Herzenslust den Pool ihrer Nachbarn zu entern. Bis sie erwischt wird und zeitgleich eine kleine Gruppe von schrägen Dörflern beginnt, den Alltag von »Nincshof« zu manipulieren. Johanna Sebauer hat ein herzerwärmendes Buch über eine winzige Ortschaft an der österreichisch-ungarischen Grenze geschrieben, das zwischen die Räder von Politik und Geschichte gerät und fortan einiges dafür tut, um vom Rest der Welt vergessen zu werden. Das passt wunderbar in das Programm der Wuppertaler Literaturbiennale, das sich diesmal dem »Verschwinden« widmet und in dem auch Johanna Sebauer zu Gast ist. Aber auch in die Schnelllebigkeit unserer Zeit, in der wir uns doch alle ein bisschen nach Abstand sehnen. Und manchmal auch nach ein kleines bisschen Anarchie.
Den Blick weiten: Jakob Stärker schätzt »Bannmeilen« von Anne Weber
Eine »Bannmeile« ist im Deutschen ein Bezirk, wo öffentliche Versammlungen oder Demonstrationen im öffentlichen Raum verboten sind. Im Französischen sind sie die »Banlieues«, also die Vororte außerhalb des Autobahnrings von Paris. Anne Weber ist für dieses Buch durch sie kreuz und quer zu Fuß 600 Kilometer gelaufen – mehr dazu erzählt sie selbst in der Kolumne »Was mich bewegt«, zu der ich sie befragt habe. Als Leser nimmt sie uns mit auf Streifzüge durch diese Welt der französischen Gesellschaft, die aber doch viel mehr ist als die Bilder aus den Medien. In Gesprächen und Beschreibungen schafft sie ein Bild dieser Gesellschaft, das von großer Zuneigung zu den Menschen getrieben ist. Und einer großen Neugier.
Lieber zu viel als zu wenig: Marcus Schütte liest das »Das ZickZack-Prinzip« über den Indie-Label-Betreiber und Musikjournalisten Alfred Hilsberg
Christof Meueler sollte ursprünglich nur als Co-Autor für eine Biografie fungieren. Herausgekommen ist sein Buch über die Lebensleistung eines Anti-Establishment-Machers mit hohem Output, dem Indie-Label-Betreiber, Film-Aktivisten, Konzert-Veranstalter und Musikschreiber Alfred Hilsberg. Im grauen Nachkriegs-Wolfsburg groß geworden, war Aktionismus Pflicht. Nicht passiv konsumieren, »machen, nicht warten«. Die Do-it-Yourself Kultur des Punk als kreatives Prinzip. Mit seinen Labels »Zickzack Records« und »What’s So Funny About« entdeckt und veröffentlicht er Musik der Einstürzenden Neubauten, Abwärts, Palais Schaumburg, Andreas Dorau, Blumfeld und vielen mehr. Allein in den ersten fünf Jahren 100 Singles, Maxi-Singles und Alben. Das Buch ist die Essenz aus Interviews mit über 60 Gesprächspartnern in 17 Kapiteln und Unterkapiteln. Rund um Hilsbergs Leben liefert es bundesrepublikanische Zeitgeschichte der Polit- und Indiekulturszene von den 60er Jahren bis in die Neuzeit aus linker Perspektive. Beim ZickZack-Prinzip passiert alles einfach so, unvermeidlich. Eine einfache, höchst unterhaltsame Umschreibung von totalem, aber höchst kreativem Chaos.
Stefan Keim mag Dietlind Falks »No regrets« und die Geschichte einer Freundschaft
Ein Tattoostudio im Ruhrgebiet. Irgendwie ist es aus der Zeit gefallen, Hänk und Muddy haben noch die Zeiten erlebt, als Tätowierungen noch Teil der Underground-Kultur waren, kein Mainstream, wie heute. Eine junge Frau bringt Schwung in den langsam vor sich hin rottenden Laden. Das sorgt für Ärger, vor allem mit Hänk, der sich durch Luz angegriffen fühlt. »No regrets« – so heißt das Studio und auch der Roman von Dietlind Falk. Die Autorin wohnt in Düsseldorf, arbeitet auch als Übersetzerin und spielt in einer Punkband. Die Sorgfalt und die Rotzigkeit, die sie für die beiden Tätigkeiten braucht, spiegeln sich im Buch. Sprachlich ausgefeilt und voller Verständnis auch für die Seelenlage alternder Männer mit auseinanderfallenden Körpern erzählt sie kitschfrei und immer wieder überraschend die Geschichte einer ziemlich irren Freundschaft.
Simone Saftig fühlt mit in Caroline Schmidts »Liebewesen«
Die Biologiestudentin Lio kommt aus »einer Welt, in der Berührungen nichts Schönes waren und Tränen mit Häme quittiert wurden«. Ihre Vergangenheit riecht nach Essigreiniger, die Narben auf ihrer Haut erzählen unausgesprochene Geschichten. Lios Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Lust ist gestört. Doch als plötzlich der attraktive Radiomoderator Max in ihr Leben tritt, verändern sich die Dinge. Gerade als Lio es schafft, sich ihren Körper langsam zurückzuerobern, wird sie schwanger – und die Vergangenheit holt sie ein. Wer jetzt denkt, dass »Liebewesen« ein deprimierendes Buch ist, irrt. Trotz der Abgründe ihrer Protagonistin verleiht Caroline Schmitt ihr eine Sprache der Leichtigkeit, einen charmant-sarkastischen Witz. Echte Dialoge und feine Charaktere geben dem Stoff die Warmherzigkeit, die er braucht.
Sascha Westphal rät gerade in Krisenzeiten zu »Tanz des Verrats«
Es ist schmerzhaft in Tagen wie diesen, in denen die Zustände in der Ukraine und im Gaza-Streifen immer unerträglicher werden, in denen Israel nicht nur von den Terrororganisationen wie der Hamas und der Hisbollah-Miliz mit Raketen und Drohnen angegriffen wird, Mathias Énards neuesten Roman »Tanz des Verrats« zu lesen. »Entsetzen liegt über dem Land, die Pest, der Hass und die Nacht, diese Nacht, die einen immer umgibt, bis man irgendwann zum Feigling, zum Verräter wird« – Sätze wie dieser bohren sich tief in Herz und Hirn und beschwören all das Leid und das Grauen herauf, das die täglichen Nachrichten mit ihrem Ton der Sachlichkeit mühsam in Schach halten. Aber Énards Roman, der in zwei parallelen, sich nie treffenden Erzählsträngen vom Krieg und vom KZ Buchenwald, von einem Deserteur und einem Überlebenden des NS-Regimes erzählt, hat auch etwas Erlösendes. Seine Sprache konfrontiert einen mit der Barbarei und überwindet sie zugleich. Einmal heißt es in »Tanz des Verrats«, »dass Mathematik ein anderer Name für Hoffnung ist«. Genau das kann man auch über Énards Literatur sagen.