Die Auseinandersetzung mit dem Fremden, das Fehlen eines Gegenüber, der gesellschaftliche Zusammenhalt im Schatten des aktuellen Krieges, Klassismus und die Suche nach Hoffnung – das sind zentrale Themen, die das Auswahlgremium der Mülheimer Kinderstücke aktuell in der Theaterliteratur für junges Publikum ausgemacht hat. Fünf Stücke haben sie eingeladen zu den 49. Mülheimer Theatertagen, aus 30 Kinderstücken, die sie im vergangenen Jahr gelesen haben. Das sind wenige im Vergleich zu 200 Stücken für Erwachsene, da ist die Auswahl ungleich größer. Aber »das Theater für junges Publikum hat kein Relevanzproblem«, meint Henner Kallmeyer. Der Autor ist mit seinem Stück »Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd« für den Mülheimer KinderStückePreis nominiert.
Der 50-Jährige lebt in Essen, arbeitet seit vielen Jahren am Theater, die meiste Zeit als Regisseur. Seine Theaterlaufbahn startete er am Bochumer Schauspielhaus, seit 2002 ist er freischaffender Regisseur, er unterrichtet an der Folkwang Universität der Künste Schauspiel und arbeitet mit dem Inklusiven Schauspielstudio Wuppertal. Für das Theater hat er Romane bearbeitet und Märchen für Familienstücke. Die Idee, eigene Stücke für junge Menschen zu schreiben, kam ihm bei einem Fest der Freiwilligen Feuerwehr in seiner schleswig-holsteinischen Heimat Ivendorf. Dort saßen sie abends noch mit den Kindern am Feuer und haben Gespenstergeschichten erzählt. Wenig später schrieb Henner Kallmeyer über einen alten Geisterjäger.
Eigentlich erst jetzt, im Theater für junges Publikum, habe er »das Gefühl, einen relevanten Beruf auszuüben«, sagt Kallmeyer. Im Erwachsenentheater inszeniere und schreibe man für diejenigen, die ohnehin schon ins Theater gehen, da predige man im Chor. Aber im Kinder- und Jugendtheater begegne man einem völlig durchmischten Publikum – aus allen Bildungsschichten, aus allen Elternhäusern. »Da hat man die Chance, die Gesellschaft, in der wir leben, als Publikum zu erreichen.« 2023 war Kallmeyer als »Feuergriffel« Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur in Mannheim. Er schrieb an seinem Roman »Mein Sommer am Volksempfänger«, in dem er sich mit der Nazi-Zeit auseinandersetzt. Und zwei Etagen unter seinem Schreibzimmer in der Alten Feuerwache Mannheim war das Kinder- und Jugendtheater. Viele Inszenierungen habe er dort gesehen und »alles war interessant, erhellend, erfrischend«. Wirklich alle wichtigen Themen der Gesellschaft würden dort verhandelt.
Sein Thema in »Troja! Blinde Passagiere im trojanischen Pferd« ist der Krieg. Und wie sich zwei Kinder der beiden verfeindeten Gruppen in diesem Krieg begegnen. Der Trojaner Spourgitis, der eigentlich Koch werden will, und die Griechin Briseis mit ihrer Superhelden-Vorstellung vom Krieg, treffen sich im trojanischen Pferd, um sie herum tobt das Gefecht der letzten Nacht von Troja. Eigentlich wollte Kallmeyer mit seiner Adaption Kindern die griechische Mythologie näherbringen, denn die hat ihn selbst schon als Jugendlichen fasziniert. Aber während des Schreibens griff Russland die Ukraine an und ein tatsächlicher, naher Krieg war plötzlich im Fokus. Homers »Ilias«, diese wilde Geschichte des trojanisches Krieges bietet für Kallmeyer die wunderbare Möglichkeit, um über ideologisch vermittelte Feindbilder, über die Chancen des Rollenspiels, über Heldentum und Freundschaft nachzudenken. Die Götterwelt vertritt in seinem Stück ein witzig-eitler Hermes. »Zehn Jahre Krieg, das ist für Menschen sehr lang, hab ich gehört. Ich bin ein Gott, was weiß ich von Zeit? (…) In zehn Jahren kann man zu Fuß 15mal um die Welt laufen. In zehn Jahren wird ein Apfelbaum so groß. (zwei Meter) In zehn Jahren wachsen Haare bis zum Boden. In zehn Jahren kann man ein Haus bauen und vielleicht noch eins, zehnmal säen, zehnmal ernten, zehnmal Geburtstag feiern. Stattdessen führen sie Krieg. Feiern nicht, ernten nichts, säen nichts, sie warten nur ab, und dann schlagen sie sich tot, obwohl sie sich gar nicht kennen«, so spricht dieser Götterbote blitzgescheit.
Humorvoll bearbeitet Kallmeyer akut-drängende Fragen. Und es ist ziemlich berührend, wie sich die beiden Kinder an übernommenen Narrativen abarbeiten, bis am Ende nichts mehr davon übrig bleibt. Inszeniert hat das Stück Frank Hörner vom theaterkohlenpott in Herne. Und »Troja!« ist nicht nur für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert, die Inszenierung ist ebenfalls zum Westwind-Festival eingeladen, dem Theatertreffen für junges Publikum in NRW (1. bis 8. Juni in Essen).
Die Nominierten
Neben Henner Kallmeyer sind Thomas Freyer (»Geschichten vom Aufstehen«), Armela Madreiter (»südpol.windstill«), Marion Brasch (»Winterkind und Herr Jemineh«) und Iona Daniel (»Dunkelschwarz«) für den KinderStückePreis nominiert. Allesamt sind sie Mülheim-Debütant*innen. Ganz anders sieht das bei den Stücken für Erwachsene aus, alle Autor*innen waren schon mindestens einmal beim Festival eingeladen, fünf von ihnen waren bereits Preisträger*innen. Nominiert sind: Rainald Goetz (»Baracke«), Felicia Zeller (»Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt«), Roland Schimmelpfennig (»Laios«), Ewe Benbenek (»Juices«), Falk Richter (»The Silence«), Thomas Köck (»forecast:ödipus«) und Sivan Ben Yishai (»Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert«).
4. bis 25. Mai