Schlank, schön, sexy. Das sind die gängigen Klischees, wenn es um Frauenkörper gerade in der Mode geht. Kirsten Becken war selbst Teil davon und hat etwa für die Vogue fotografiert, ehe sie anfing, in ihrer Kunst den Blick auf Frauen von Normen und Zwängen zu befreien. Mit Sandra Hüller ist sie seit Jahren künstlerisch verbunden – für das erste Plattencover der Schauspielerin oder einen eindrücklichen Kunstfilm. Ein Gespräch über weibliche Blicke zwischen Frauenbeine und die Frage, warum die Fotografin die Schauspielerin auch schon mal im Abendkleid in einen Baum stellt.
kultur.west: Frau Becken, warum sind Sie aus der Modefotografie weitestgehend ausgestiegen und haben das Kollektiv femxphotographers.org gegründet?
KIRSTEN BECKEN: Ich habe ein inneres Bedürfnis, Frauen sichtbar zu machen. femxphotographers.org geht es um die Frage, wie man über Bilder Inhalte verbreiten und auch korrigieren kann. Daher hat unser Kollektiv als erste Publikation den Band »The Body Issue« bei Hatje Cantz herausgebracht. Da geht es um den neutralen Blick, um den nicht sexualisierten Blick auf Körper.
kultur.west: In Ihrer Arbeit geht es oft darum, gängige Rollen- und Blickmuster in Frauendarstellungen zu hinterfragen, nicht zuletzt in der Modewelt.
BECKEN: Wenn man diese Editorials macht, ist es oft nicht leicht, seine eigene Sicht unterzubringen. Strecken, die mit Hochglanz-Klischees brechen, habe ich zum Beispiel fürs Missy Magazin gemacht, aber das waren eher Ausnahmen.
kultur.west: Wie finden Sie heute Ansätze, Frauenkörper anders zu betrachten?
BECKEN: Ich habe zum Beispiel eine Serie entwickelt, die »L’origine du monde« heißt. Da lasse ich das Gesicht der Frau ganz weg und zeige nur ihren Schritt. Ich arrangiere Blumen und Objekte genau zwischen den Beinen, in der sogenannten Scham. Es entstehen politische, intime Bilder.
kultur.west: Wie entstand die Zusammenarbeit mit Sandra Hüller?
BECKEN: Ich hatte Sandra vor einigen Jahren während der Berlinale geschrieben, damals kam aber kein Treffen zustande. Dann hat sie unser Kollektiv bei einer Crowdfunding-Aktion unterstützt und einen Print aus meiner Reihe »Girls In Trees« gekauft. 2019 haben wir uns das erste Mal in Kleve für Pressebilder getroffen.
kultur.west: Vor allem für einen gemeinsamen Kunstfilm haben sie später intensiv miteinander gearbeitet.
BECKEN: Ja, das stimmt. 2017 habe ich das Buch »Seeing her ghosts« beim Verlag für moderne Kunst über die Psychose meiner Mutter herausgebracht. Welches Trauma sie hatte, habe ich erst bei der Arbeit an dem Buch wirklich herausgefunden. Ihre Geschichte habe ich viele Jahre später mit Sandra und einer anderen Schauspielerin abstrakt und weniger narrativ in einem Film erzählt.
kultur.west: Wie hat die Arbeit am Film funktioniert?
BECKEN: Die Situation war sehr intim, weil Sandra und ich nur zu zweit in einem kleinen Raum gedreht haben. Ich musste nur zwei, drei Dinge sagen, und sofort hat sie das Gesagte in einer unglaublichen Kürze transportiert.
kultur.west: Herausgekommen ist ein audio-visuelles Projekt über ein Trauma, über Familiengeheimnisse und den Umgang mit Psychosen. Neben dem Buch gibt es inzwischen ein Hörspiel und den Film, in dem man fühlt, dass da jemand ist, der mit der Welt nicht mehr zurechtkommt. Etwas sehr Schlimmes muss Ihrer Mutter – alias Sandra Hüller – passiert sein. Aber man erfährt nicht, was. Was war geschehen?
BECKEN: Meine Mutter ist von ihrem Vater, also meinem Großvater, missbraucht worden. Im Film ist er als Wolf in einer Bundeswehrjacke zu sehen. Das Ganze ist aber erst nach und nach über Interviews und während meiner Recherchen zum Buch nach außen gedrungen. Meine Mutter selbst hatte das alles in sich verkapselt. Sie wurde mit Medikamenten ruhig gestellt. Die Familie hatte kein Interesse daran, es aufzudecken – da kommen wir auch wieder zum Thema Frauenbild.
kultur.west: Von Sandra Hüller stammt der Satz: Ich weigere mich, Objekt zu sein. Welchen Typ Frau sehen Sie selbst in ihr?
BECKEN: Sandra ist sehr lieblich, eher elfenhaft. Sie ist sehr natürlich, sehr körperlich, sehr stark präsent. Und unglaublich professionell.
kultur.west: Es gibt Bilder von Ihnen, auf denen entziehen sich die Frauen den Konventionen – sie posieren mit Schwarzwaldhut und in feiner Unterwäsche, aber ein Ganzkörperanzug umhüllt alles. In einer Serie bekleckern Frauen scheinbar ungerührt ihre ausufernden Krägen. In einer anderen werden körperliche Makel selbstbewusst zur Schau gestellt, anstatt sie zu verstecken. Wie kamen Sie auf die Idee, Frauen in Abendkleidern in Bäume zu schicken?
BECKEN: Ich wollte die Wildheit, die man als Mädchen hatte, wiederbeleben. Nach dem Motto: Ich mache mein Kleid bewusst schmutzig, steige hoch hinauf, hebe meinen Blick über die Dinge. Dazu zelebriere ich eine Verbundenheit mit der Natur. Was ist, wenn der Klimawandel alles zerrüttet – dann sind die Frauen noch da und die Bäume, so sehe ich das (lacht).
kultur.west: Wie schwer war es schließlich, ein Baum-Bild der Serie mit Sandra Hüller zu machen?
BECKEN: Gar nicht. Die Serie »Girls in trees« hatte ich schon 2014 angefangen, die Single von ihr, »In the trees«, passte zufällig sehr gut dazu. So ist ein Baum-Bild mit ihr zum Plattencover geworden, genau genommen der eine Teil davon. Die andere Coverseite zeigt sie breitbeinig auf einem Klavier im Museum Kurhaus Kleve. Eine Szene, die wunderbar zu Sandras erstem LP-Titel passt: »Be your own prince«.
Kirsten Becken kam 1982 in Kleve zur Welt, ging in Goch zur Schule und studierte an der Folkwang-Schule in Essen Design und Fotografie. Mit Veronika Faustmann gründete sie das Kollektiv femxphotographers.org, um sich für mehr gegenseitige Unterstützung und Sichtbarkeit im von Männern dominierten Fotografen-Metier zu engagieren. Im Herbst erscheint der dritte Bildband im Magazinformat mit Edition bei Hatje Cantz. Beckens Kunstfilm »Ihre Geister sehen«, der parallel zum gleichnamigen Hörspiel von Rabea Edel (Regie: Judith Lorentz) für Deutschlandfunk Kultur entstand, ist auf YouTube abrufbar.