So viel Anfang wird nie mehr sein. Das erschöpfte und beseligte Lachen auf ihren Gesichtern, nachdem die Studierenden ihre Monologe und Szenen im Dezember 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus gezeigt hatten und nun den Schlussapplaus in der unterirdischen Spielstätte entgegennahmen, vergisst man nicht. Sie hatten keine leichte Aufgabe gestemmt. Starke Texte, einschüchternd und übermächtig beinahe, für Eleven: Don Carlos, Edward II., Wetter vom Strahl, Faust und Mephisto, Emilia Galotti, Antigone und Elektra. Nichts gegen Sybille Berg, sagt André Kaczmarczyk, Studiengangleiter der Leipziger, die am Gründgens-Platz unterrichtet werden – und Theater spielen. Seinen Kolleg*innen und ihm sei es darauf angekommen, sich der großen Dramenliteratur zu nähern. Sich auf Achttausender zu begeben, statt im Mittelgebirge zu operieren.
Im geschlossenen Organismus Theater, der das Leben draußen vergessen machen kann, bilden die Studierenden eine besondere Zelle. Über mehrere Jahre Nähe und Intimität von morgens bis abends, während es um Persönlichstes, Existentielles geht, wo gibt es das sonst? »Die Dynamik der Gruppe wächst mit uns«, sagt Charlotte ‚Charlie’ Schülke, die auch vom »Zufluchtsort« Theater spricht. Sarah Steinbach meint, sie habe diese exklusive Situation anfänglich »eher praktisch« genommen und sei überrascht worden von der »emotionalen Verbundenheit«. Michael Fünfschilling fragt sich, ob man genau gewusst habe, »was man da einkauft«. Denn das Leipziger Modell sieht vor, dass sich zur Halbzeit der 16-köpfige Jahrgang teilt, eine Hälfte bleibt am Ort, die andere wechselt nach Düsseldorf. Präferenzen dürfen angegeben, Wunsch-Sternchen gesetzt werden, aber »einzigartig« sei, »die Entscheidung, wo man die nächsten zwei Jahre lebt, aus der Hand zu geben«. Mit allen Konsequenzen.
Man kann es nicht Praxistest nennen. Es ist die Praxis. »Die Berufsrealität, bei der sich Anforderungen verändern« (Charlotte ‚Charlie’ Schülke). »Eine andere Professionalität kommt hinzu« (Sarah Steinbach). Handwerk, an vorderer Stelle. Der Schauspieler als Facharbeiter. Sich allein in einem Raum vor fremden Leuten zu behaupten, mit Lust und Mut. Den Schlusspunkt bei der Präsentation setzte Tschechows »Heiratsantrag«, eine Skizze, von Kaczmarczyk mit Elias Nagel und Luise Zieger herrlich ins artistisch Groteske, in fidele Komik und starrendes Perplex-Sein gebogen. Perfekt in Timing, Witz, Körpersprache, Charaktermasken. Was gibt’s da noch zu lernen!
Zwei Monate später. Die Acht haben Monologe erarbeitet und Brecht-Lieder. Es kommt auf die Sekunde an. Präsenz im Minutentakt. Die Zeit ist ein subjektiver Faktor, ob kurz oder lang. Wir Zuschauer mögen die Auftritte als schnell vorübergehend betrachten. Für die Spielenden dehnen sich Augenblicke und wollen bewältigt sein. Vielleicht ist der erste Schritt hinaus schwer, vielleicht möchte jemand gar nicht abgehen, sondern bleiben im Licht.
Der Ton muss kalt und schnöde treffen wie ein gezielter Schuss, wenn Sarah Steinbach »Nanna’s Lied« von Brecht / Weill singt. Oder wenn Michael Fünfschilling, dem seine Begabung vorausspringt (aber er holt sie wieder ein), elegant, aasig, lasziv »Denn wie man sich bettet, so liegt man« vorträgt und schrillt: »Ein Mensch ist kein Tier«. Das hätte der Exzentriker der Form, Gustaf Gründgens, kaum besser gekonnt. Fünfschilling hat auch das Finale: Kostja in Tschechows »Möwe«. Er gestaltet eine brillante komödiantische Miniatur, trocken, pedantisch, pikiert, ein beleidigtes Künstlerkind im werdenden Mann. Als würde er schelmisch das deutsche 50er-Jahre-Kino in Allotria überführen. Um diese Szene, einstudiert von Friederike Wagner aus dem Düsseldorfer Ensemble, ließe sich eine komplette Inszenierung bauen. Später erzählt er, dass ihn in ganz jungen Jahren Heintje, Josef Meinrad und die »Sisi«-Trilogie beschäftigt hätten.
Sechs Wochen bis zur Premiere, die das Studium abschließt. Die Probe als Ernstfall. Sie beginnt als Tischgespräch; an eine Wand sind Kostüm- und Bühnenentwürfe gepinnt. Der Saal im Central am Hauptbahnhof improvisiert das ‚echte’ Bühnenbild, bis das Team ins Schauspielhaus umzieht, um unter realen Bedingungen zu arbeiten. Um zehn Uhr ist von der berufsspezifischen Energie wenig zu spüren. Energie, dieses Sesam öffne Dich und Zaubermittel, das magische, physische und mentale Anteile hat. Aber wie wenn sich ein Streichholz mit einem Ratsch entzündet, ist sie da: Die Acht legen sich Krawatten oder Schleifen um den Hals, streifen sich Pullunder und Anzugjacken über Shirts, schon sind aus morgenfrühen Alltagsmenschen Bühnenfiguren geworden: die Bürger und Honoratioren aus Eugène Labiches Posse »Das Sparschwein«, die ihren auf 600 Francs gemästeten Tresor schlachten. Ran an den Speck: Auf die Sau mit dem angefutterten Kapital wird angelegt und geschossen. Damit wollen sie in Paris einen draufmachen, was genregerecht in die Katastrophe führt. Ein Glücks- und Kartenspiel setzt die Chose in Gang.
Dabei gerät Fünfschilling auf Teufel komm raus in Rage, sein Regisseur macht ihm die Hölle noch heißer, indem er selbst die Situation vorspielt und sie weiterschraubt, bis der Darsteller des Rentiers Champbourcy sich mächtig bläht – »da kommt der innere Til Schweiger raus«, ätzt André Kaczmarczyk – und in seiner Wutattacke die Spielkarte zerkaut. Die Übrigen starren oder wuseln wie ‚Charlie’, die mit lupenartiger Brille, kiebig, beflissen und in gespannter Hab-Acht-Haltung das Unterlegene ihrer Rollenfigur pointiert.
Der Regisseur korrigiert, befeuert, dirigiert, lotet aus, gibt Versicherungen und hat von der Motivation und Eigenschaft jeder Figur in jedem Moment seine Vorstellung. Die Acht sind acht mal eins, jeweils anders, zuhause in ihrer eigenen Welt und kollektiv zu versammeln. An diesem Vormittag erlebt der Gast Akkuratesse, Konzentration, Präzision, die, einmal gefunden, jederzeit wiederherstellbar sein müssen. Entscheidungsfähigkeit auf der Regie-Seite und fixes, flexibles Reagieren und Abspeichern bei den Spielenden. Es sind Gedulds-Proben – nochmal und nochmal. »Man muss da sauber arbeiten«, sagt Kaczmarczyk, der Stilbewusste. Theater verlangt nach Passform.
Ein paar Tage später herrscht produktive Zerstörungs(not)wendigkeit. Man reißt vorläufig Gebautes wieder ein, erkennt Fertiges als wacklig. Kaczmarczyks Gefühl dafür, was stimmig ist, scheint untrüglich. Wo ist die einzig richtige Position, das beste Licht für Roman Wieland als Apotheker Cordenbois? Der will – seiner selbst nicht eben sicher vor dem Spiegel posierend – bei seinem Besuch in einem gewissen Etablissement im Frack triumphieren, der als soziale Demonstration grandios, ästhetisch betrachtet aber eine Fatalität ist.
Das feine Ohr des Regisseurs
Der Regisseur hat etwas von einem Psychoanalytiker, nicht, weil er die Seelen der Schauspieler ausforschen und ihr Herzkammergut auswiegen müsste, sondern weil er mehrere Fäden in der Hand hält, die Aufmerksamkeit auf vieles gleichzeitig richtet. Auf das, was die auf der Bühne sagen und wie ihre Körper dabei sprechen, wie die Interaktion untereinander ist und wie sie sich auf ihn (und demnächst auf ein Publikum) beziehen und was der Regisseur selbst dabei denkt, fühlt und sieht, was ihn beeinflusst, hemmt, motiviert, anregt.
Plötzlich ist da ein Geräusch, das Rhythmus sein könnte, wenn es sich im Gleichklang erzeugt. Während ein Schauspieler spricht, zählen die übrigen Sieben Banknoten und fabrizieren nun beim Blättern, chorisch in synchroner Taktung, so etwas wie Sound. Um diese Musikalität heraus zu präparieren, braucht es das feine Ohr des Regisseurs.
Ingmar Bergman gab zu Protokoll: »Der Schauspieler steht mit seinem Körper, seinem Gesicht, seinen Augen, seinen Bewegungen, seiner Stimme im Scheinwerferlicht und muss unbedingt geschützt und gepflegt werden.« Ist der Regisseur selbst auch Schauspieler, scheinen Wärme und Geborgenheit leichter herstellbar.
Übereinstimmend sagen Charlie Schülke, Sarah Sarah Steinbach und Michael Fünfschilling, stellvertretend auch für die übrigen Fünf, dass sie sich bei ihrer Düsseldorfer Abschlussarbeit »gesehen fühlen« und in Kaczmarczyk jemanden haben, der aus seiner Aktivität, Kompetenz und Erfahrung als Schauspieler und Regisseur ein anderes Verständnis habe, auch die Zweifel kenne: »Er fordert viel und er gibt viel.« Da scheinen Unterschiede durch zu einigen Autoritäten in Leipzig, wo die Dozenten*innen gesiezt werden, eher »schulischer Charakter« und manchmal Theorie-Ferne zur konkreten Praxis herrsche.
Alle Drei sind früh in Jugendtheatergruppen gewesen: Charlie in Berlin-Schöneberg, Sarah in Duisburg in einer Kindertanzgruppe, um später sehr beeindruckt gewesen zu sein von Hannelore Elsner. Der Waldorfschüler Michael aus Basel mit auch österreichischen Wurzeln, dessen Mutter Sängerin ist, habe über die Musik zum Theater gefunden, mit neun Jahren seine erste Rolle gespielt und die Bühne als »fantastischen Ort« erkannt, zu dem er Vertrauen gewann. Ja, er spüre »große intrinsische Motivation«, aber wisse: »Das System kann auch ungnädig sein«.
Womöglich ist Unbefangenheit eine Voraussetzung dafür, als Schauspieler ein Geheimnis zu haben und zu wahren. Auch davon war in den vergangenen Monaten einiges zu spüren.
Kontraste des Kaufmanns
Mit Eugène Labiche, dem von der Hochkultur geadelten französischen Lustspiel-Autor des 19. Jahrhunderts, hat es nicht sein Bewenden. »Das Sparschwein« wird mit Elfriede Jelineks Wirtschaftskomödie und Farce »Die Kontrakte des Kaufmanns« von 2009, ihrem garstigen Sermon zu mäandernden Finanzflüssen kombiniert, konterkariert, kommentiert. So steigern sich wechselweise die Affekte und Effekte. Indem rasant neue Schnittmengen und Schnittflächen zusammenstoßen, könnten »Die Kontrakte des Kaufmanns« auch die Kontraste des Kaufmanns heißen: Chapeau Claque neben Hammer und Axt, flirrende Schmetterlingsflügel, blinkender Eiffelturm-Kopfputz und eine knallende Peitsche, damit ein stupides Mannsbild pariert. Und noch wiegt der Cancan in trügerischer Sicherheit.
Chorisches Sprechen braucht mehr, als gut bei Stimme zu sein. Automatisch wird die rechte Hand von Elias, Orlando Lenzen und Sarah zum Taktstock, fast zum Metronom, als sie eine Jelinek-Passage einstudieren. Anderntags singt die Gruppe als »Herakles«-Banker, treuherzig mit falschem Lächeln über den Noten-Schmelz gleitend, mit anderem Text Vicky Leandros’ »Du weißt, ich liebe das Leben« und Theos Fahrt nach Lodz, die hier Paris bejubelt. Jule Schuck wirft Jelineks rasend leerlaufende, buchstabensatte Sprechmaschine an, während Orlando an seiner Krawatte nestelt und sie beständig aufrollt, als habe er sich den Slapstick beim »Dicken« Oliver Hardy entliehen. Dann hebt Jule ab, wird an Seilen in die Lüfte gezogen, um aus der Höhe (gegenüber baumelt das geflügelte Sparschein) über die Marktgesetze zu räsonieren. Auch beim technischen Einrichten gilt: Es kommt auf die Sekunde an.
»Das Sparschwein / Die Kontrakte des Kaufmanns«
Premiere: 2. März
Düsseldorfer Schauspielhaus