Man erhält sie gestreift, gepunktet, anderweitig gemustert oder monochrom. Sie besteht aus Seide oder anderen Naturfasern. Mal ist sie dezent, mal bunt. Die einen empfehlen eine Handbreit Abstand zwischen ihrer Spitze und der Gürtelschnalle – andere hingegen bevorzugen eine längere Tragweise, die bis zur Höhe des Hosenbundes reicht. Und, kaum zu glauben: Es soll knapp 100 verschiedene Möglichkeiten geben, sie formvollendet zu binden. Die Krawatte sticht als Musterbeispiel für Vielfalt in der Herrenmode hervor. Doch ihre Beliebtheit nimmt ab, ebenso wie die Verbindlichkeit, sie bei offiziellen Anlässen oder in gehobener beruflicher Stellung zu tragen.
Seit 1965 kürte das Deutsche Mode-Institut, ansässig in der Krawattenstadt Krefeld, den »Krawattenmann des Jahres«. 2019 war damit Schluss – der Jazzmusiker Till Brönner war der letzte, der die offenbar als anachronistisch angesehene Ehrung erhielt. »Die Krawatte hat ausgedient«, titelte gar die F.A.Z. kürzlich in einem Artikel. Das würden viele unterschreiben. Schließlich bröckelt ihr Nimbus als unverzichtbares Accessoire der Herrengarderobe seit der Hippie-Zeit. Hartnäckig hält sich dagegen bis heute die trivialpsychologische Ansicht, der Schlips sei ein Phallussymbol. Eine fragwürdige These: Krawatten sind biegsam und bestehen aus nicht erektionsfähigem Material.
Stefan Thull bedauert den schleichenden Niedergang der Krawatte. Und vertraut auf die Weisheit: Totgesagte leben länger. Der Aachener Sammler und frühere Modeberater (Jg. 1958) hat seit mehr als vier Jahrzehnten ein Faible für das Halsgebinde. In Publikationen wie »Männermode in 60 Minuten« oder »Männermode. Das Lexikon« ist seinem textilen Steckenpferd ein prominenter Abschnitt gewidmet.
Krawatte in der Kunst
»Die Krawatte«, versichert Thull, »war und ist noch immer das Schmuckstück des Mannes. Er entscheidet, ob er mit oder ohne aus dem Haus geht. Man(n) kann sicherlich auch ohne Krawatte gut gekleidet sein. Aber mit, kann man(n) sich wieder von der Masse abheben.«
Stefan Thull weiß nicht nur viel über Schlipse, Schleifen, Plastrons oder Krawattenschals – er sammelt sie auch. Nicht als Kleidungsstück, sondern als Motiv, das auf Kunstwerken und Fotografien zu sehen ist. Eingedenk der Sammler-Maxime, man solle beim Aufbau einer Kollektion antizyklisch vorgehen, hat sich Thull auf ein Thema spezialisiert, das absolut nicht im Trend liegt.
Wie ist er auf die Idee verfallen? »1980 habe ich für einen Kollegen eine Geburtstagskarte mit einer Krawatte drauf gekauft«, erinnert sich Thull an die Initialzündung. »In den nächsten Jahren baute ich die Sammlung ‚Krawattivitäten‘ auf – mit allerlei Krawatten-Motiven auf Karten, Plakaten, Keramiken und anderen Materialien.« Diesen Gemischtkrawatten-Fundus hat er allerdings inzwischen veräußert. Später erweiterte er den Sammler-Radius auf die bildende Kunst, beispielsweise auf Arbeiten von Natalie Czech, Claes Oldenburg, Jim Dine, Allen Jones oder Thomas Virnich.
Und auf Fotografie. Als Stefan Thull in einer Münchner Werbeagentur arbeitete, lernte er die Modefotografie von Helmut Newton kennen und stellte bald fest, »dass fast alle großen Fotografen irgendwann Krawatten fotografiert haben«. Damit war der Stein ins Rollen gebracht. Im vergangenen Sommer überließ er der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin seine Kollektion »Die Krawatte in der Fotografie« als Schenkung. Zuvor habe er bei mehreren Museen in NRW angefragt, ob Interesse an seiner motivkundlichen Sammlung bestehe. Nirgends stieß Thull auf Resonanz. Offenbar hatten dort Krawattenmuffel das kuratorische Sagen.
Jetzt gehören die 93 Krawatten-Bilder, die mehr als ein Jahrhundert Mode- und Fotogeschichte repräsentieren, also zum Fundus der Berliner Sammlung Modebild. Porträts, Reportagebilder, sachliche Aufnahmen und konzeptionelle Arbeiten sind darunter, Werke von namhaften Fotograf*innen wie Marianne Breslauer, William Klein, Herlinde Koelbl, Jeanloup Sieff oder Charles Wilp.
Aus dem Rahmen fällt eine Postkarte, die auf circa 1912 datiert wird, von der Foto-Agentur Georg Gerlach & Co stammt und den Titel »Berlin, Erotic Fantasy« trägt: Bei dieser Montage dient der Seidenstoff der Krawatte zugleich als ziemlich transparentes Gewand einer unbekleideten Frau, die das Gebinde ziert. Sam Shaw fotografierte Marilyn Monroe 1957 beim Shoppen auf der Fifth Avenue – erstaunlicherweise begutachtet sie eine Reihe von Krawatten. Anders als Marlene Dietrich, die sich gern mit Schlips ablichten ließ, bevorzugte die Monroe für sich selbst krawattenfreie Outlooks.
Lebenslust pur vermittelt Charles Wilps Aufnahme »Men’s Fashion by Parisian Couturiers«. Um 1960 hielt der Düsseldorfer Werbefachmann und Fotograf eine elegante Lady fest, die sich an einem Bündel Krawatten erfreut, als handle es sich um einen Lotto-Gewinn. Das waren noch Zeiten! Die hohe Kunst des Krawattenbindens demonstrierte Marcel Reich-Ranicki 2008 bühnenreif, nämlich vor einem roten Vorhang. Herlinde Koelbl fotografierte ihn dabei. Die sechsteilige Serie beweist, dass der Literaturkritiker auch auf anderen Gebieten versiert war.
Übrigens las Reich-Ranicki nie im Bett, sondern stets im Sitzen, und zwar immer mit Sakko und Krawatte. Das sei er der Literatur schuldig, begründete er seinen strengen Dresscode. Stefan Thull sieht das legerer: »Ich selbst habe vor etwa zehn Jahren aufgehört, auch im Beruf, Krawatte zu tragen. Auch wenn ich sie täglich leidenschaftlich verkauft habe. Viele meiner Kunden wussten um meine Kenntnisse und haben sich blind darauf verlassen, dass ich ihnen die beste für sie ausgesucht habe!«
Der Mann, der eigens einen Verlag gründete (den thullverlag), um eine deutsche Übersetzung des französischen Krawatten-Klassikers »L’art de mettre sa cravate« (1827) auf den Markt zu bringen, ist hierzulande beinahe ein Krawattenpapst. Jedenfalls weiß er ziemlich viel über diese langfristig vom Aussterben bedrohte Spezies der Modewelt. Beispielsweise, dass täglich mehr als 600 Millionen Männer Schlips tragen. Oder dass sich das Wort Krawatte in seiner heutigen Bedeutung – »sich etwas um den Hals binden« – erstmals in einer Ballade des französischen Dichters Eustache Deschamps (zwischen 1340 und 1407) findet.
Wer nach griffigen Zitaten zum Binder sucht, landet unweigerlich bei Oscar Wilde und Honoré de Balzac. »Eine gut gebundene Krawatte ist der erste, wichtige Schritt im Leben«, glaubte Wilde – ein typischer Satz für den Dandy. Balzac befand sogar: »La cravate c’est l’homme.« Stefan Thull plädiert, dem Gegenstand angemessen, für Tieferhängen: »Die Krawatte ist das nutzloseste Kleidungsstück, was jemals für Männer erfunden wurde«, so lautet seine Definition. Den Vorzug der Nutzlosigkeit teilt sie mit der Kunst. Ein weiteres Argument, das die von Thull geschmiedete Allianz erhärtet.