Sie leben auf einem Dach und schauen auf New York. Klingt idyllisch, doch manchmal haben sie keinen Strom und selten etwas zu essen. In die prekäre Künstlerszene der 90erJahre führt das Musical »Rent« von Jonathan Larson. Der Autor und Komponist hat sein eigenes Lebensumfeld auf die Bühne gebracht und eine Geschichte über Selbstverwirklichung, Armut, Obdachlosigkeit und Drogensucht erzählt. Auf der Musicalbühne, am Broadway, ein Gegenentwurf zur Glitzerwelt der Fantasie. Nun hat Gil Mehmert das Stück am Theater Dortmund inszeniert.
Vorlage des Musicals war Giacomo Puccinis Oper »La Bohème«, in der eine junge Frau zu unglaublich schöner Musik an der Schwindsucht stirbt. Die Oper Dortmund wagt ein ungewöhnliches Konzept und zeigt beide Stücke im selben Bühnenbild, auch das Regieteam ist gleich. Das Publikum hat die Möglichkeit, zwei sehr unterschiedliche Versionen eines Stoffes zu sehen. Zwischen den Uraufführungen des Musicals und der Oper liegen ziemlich genau hundert Jahre.
Während sich Puccini auf das Liebespaar Mimi und Rodolfo konzentriert, behandelt Larson drei Beziehungen gleichberechtigt. Und setzt damit ein Signal für die Queerness, denn neben den heterosexuellen Mimi und Roger sind es ein lesbisches und ein schwules Paar. Der erste Teil des Stücks ist ein bisschen lang geraten, es dauert, bis man den Figuren nahekommt. Diese Schwäche des Stücks kann auch die feinfühlige und einfallsreiche Regie von Gil Mehmert nicht ganz verdecken. Doch nach der Pause wird es emotional und überwältigend.
Großer Musicalzauber
Die Bühne fährt rauf und runter, großer Musicalzauber harmoniert mit bodenständigen Bildern, die Wände sind mit Graffiti mehr verziert als beschmiert. Die Aufführung lässt sich auch als Plädoyer für die Urban Arts begreifen. Bettina Mönch zeigt als Performance-Künstlerin Maureen Johnson ein leidenschaftliches und überdrehtes Solo, das viel über die Selbstbehauptung einer Frau jenseits des Mainstreams erzählt. Eine der berührendsten Figuren ist Angel (Lukas Mayer), eine Transperson voller Herzenswärme, die an AIDS stirbt. Doch sie verschwindet nicht, weil alle sie im Herzen bewahren. Am Schluss sitzt Angel mit auf dem Dach, erst getrennt, dann gesellt er sich zu den anderen, wenn sie gemeinsam die Botschaft singen, dass nur die Liebe im Leben zählt.
Natürlich ist das eine etwas gefühlige Message, doch nach drei Stunden, die das Publikum oft mit der Härte des Underdog-Lebens konfrontiert, kann man sie sehr gut gebrauchen. Die Regie belässt das Stück in seiner Entstehungszeit, den 1990er Jahren. Dennoch passt es perfekt in die Gegenwart nicht nur des Ruhrgebiets. Es ist auch ein Zeichen des Respekts, verbunden mit der Hoffnung, dass die Gesellschaft nicht weiter auseinanderfallen muss. »Rent« hat durchaus mit der Stärkung der Urban Arts zu tun, die man gerade beobachten kann. In Oberhausen gibt es eine eigene Sparte, in Herne hat sich das Urban Art Ensemble Ruhr gebildet. Vielleicht wäre es gut, eine Vorstellung zu ermäßigten Eintrittspreisen zu organisieren, damit zum Beispiel auch Niedrigverdiener aus der Dortmunder Nordstadt sehen, dass im Theater von ihnen erzählt wird. Auf hohem Niveau.
Doppelvorstellung »Rent« und »La Bohème« am 10. Dezember
weitere Vorstellungen beider Stücke getrennt voneinander im Dezember und Januar
Theater Dortmund