Ein Heimatroman? Nun ja, es kommt darauf an, wie man den Begriff auslegt. Jedenfalls wird kein Idyll geschildert, keine Einkehr in eine vergangene geordnet heile Welt hingezaubert. Vielmehr ist es ein Aufbegehren gegen das Freudlose, Niedergehaltene und Bedrückende, auch Brutale der Berge und ihrer Bewohner, die die Härte der Alpennatur selbst versteinert hat.
Wohin mit dem Jungen? Im Haus des engherzigen und jähzornigen Hubert Kranzstocker (Andreas Lust) darf der »Bankert« nicht mit am Tisch der Familie, sondern muss allein für sich im Eck sitzen. Dass er den Waisen Andreas Egger (Ivan Gustafik) überhaupt aufgenommen hat, liegt am Geldbeutel, den der bei seiner Ankunft in dem abgelegenen österreichischen Dorf um den Hals trägt. Es setzt Prügel, bis dahin, dass ein Bein unter den Schlägen bricht, wenn ihm ein Fehler unterläuft, weil er mit den bäuerlichen Gepflogenheiten und Arbeiten nicht vertraut ist und sich ungeschickt anstellt. Nur Ahnl, die alte Frau im Haus (Marianne Sägebrecht), hat Güte und Zuneigung für Andreas.
Im Blick des gottesfürchtigen Ziehvaters aber liegt purer Hass, wohl weniger auf Andreas als Person, vielmehr auf die Schuld des Geboren-worden-Seins überhaupt. Nach den Szenen einer herben Kindheit erfolgt ein abrupter Schnitt, der aus Andreas einen jungen Mann macht, den Stefan Gorski mit rührend scheuer, staunender und inniger Aufrichtigkeit spielt. Er ist abgesondert, und er ist besonders. Später folgt ein zweiter solcher Schnitt, worauf August Zirner dem alten Egger sein Gesicht gibt.
Duell der Männer
Als Andreas zum Militär möchte, verhindert es der Alte, weil er die billige Arbeitskraft nicht missen will. Es läuft auf ein Duell der Männer hinaus, das nur durch Andreas’ Weggehen verhindert wird, der sich als Hilfsknecht und Holzfäller durchschlägt, bis er sich einem Arbeitstrupp anschließt, der die erste Seilbahn in das unwegsame Gebirgsgelände baut und die Gegend elektrifiziert. »Auch wenn die ganze Landschaft einen Riss bekommt« wie Andreas zu seiner großen Liebe und Frau Marie (Julia Franz Richter) sagt, und der Tod bei der Pionieraufgabe reichlich Beute hält und viele Kreuze aufzurichten sind. Eines Winters, von einer Schneelawine verschüttet, kommt Marie um. Andreas, der wiederum schwer an den Beinen verletzt ist und sich nach dem Unfall zunächst nur an Krücken fortbewegen kann, wird sein Leben lang im stummen Dialog mit ihr Briefe an sie schreiben.
Andreas’ Behinderung ist kein Grund, um nicht für Hitlers Eroberungen und die Verteidigung der Festung Europa im Kaukasus doch noch Soldat zu sein und von den Russen gefangen genommen zu werden.
Der schmale, in seiner Schlichtheit und Wortkargheit beeindruckende Roman, der in großer Ruhe und Stille und mit dem Atem eines poetischen Realisten wie Gottfried Keller über ein Schicksal und eine Epoche mit zwei Weltkriegen berichtet, findet in der Verfilmung durch Hans Steinbichler seinen rechten Ausdruck. Der im Chiemgau aufgewachsene Regisseur ist seit »Hierankl« von 2003 mit dem Genre vertraut.
Der neuen Zeit, dem Menschheitsfortschritt (u.a. mit der Landung auf dem Mond ) und all seinem Wahn, ob durch Ideologie, Technik oder Kommerz, und auch dem Willen zum Glück und Gelingen des Einzelnen stehen immer die feindselige Kälte und Schroffheit der Natur entgegen. Deren bald vom beginnenden Massenphänomen Tourismus bevölkerte und überrannte Schönheit wohnt die Drohung inne – gewaltig, gewalttätig und ungerührt.
Die Zeit geht nicht, sie steht still: dies die Erfahrung und Erkenntnis, als Andreas Egger dem im Eis konservierten Leichnam eines Mannes gegenübersteht, den er vor 40 Jahren zu retten versucht hatte und der in den Bergen zugrunde gegangen war. Es ist die Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit.
»Ein ganzes Leben«, Regie: Hans Steinbichler, D / Österreich 2023, 115 Min.,
Start: 9. November