Bei den Themen Diversität, Anti-Rassismus, Anti-Sexismus oder der kritischen Hinterfragung von Machtstrukturen will der Theaterbetrieb dem Rest der Gesellschaft gern ein bis zwei Nasenlängen voraus sein. Allerdings hat auch er seinen blinden Fleck: Das Thema Inklusion wird bisher stark vernachlässigt – zumindest bei den Stadttheatern und Schauspielschulen. Deshalb hat das Inklusive Schauspielstudio Wuppertal Vorbildfunktion.
Wie randständig das Thema derzeit noch behandelt wird, merkt man an den wenigen Inszenierungen, in denen Menschen mit Behinderung einmal selbstverständlich Teil des Ensembles sind. Es fällt gleich auf, einmal »andere« Körper auf der Bühne zu sehen. In Wuppertal war das zuletzt bei »Der Zauberberg« unter der Regie von Henri Hüster der Fall: Da spielte Aline Blum die Clawdia Chauchat und Nora Krohm den Dr. Krokowski. Beide sind Teil des Inklusiven Schauspielstudios, das Menschen mit Behinderung nicht nur eine Schauspielausbildung ermöglicht, sondern sie auch in den regulären Spielbetrieb mit einbindet.
Antriebsfeder und Leiter dieses besonderen Projekts, das noch bis Ende des Jahres vom NRW-Programm »Neue Wege« gefördert wird, war und ist Intendant Thomas Braus persönlich. In seiner Berufsbiographie findet sich auch eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger, die ihm eine gewisse Sensibilität für das Thema mit auf den Weg gab. »Als ich einmal ein Heft mit den Schauspiel-Absolventinnen und –Absolventen des Jahres in der Hand hatte, dachte ich, ich schaue in einen Modelkatalog«, erinnert er sich.
»Ich habe überlegt: Welche unterschiedlichen Formen von Sprache und Ausdruck gibt es? Was fehlt uns auf der Bühne? Für mich ist das sehr wichtig: Jeder Mensch, jeder Körper kann eine Geschichte erzählen.«
Thomas Braus, Intendant
Schon bei seinem Antritt 2017 schloss er eine Kooperation mit dem inklusiven Verein Glanzstoff, der Theaterkurse für Menschen mit Behinderung anbietet. Mit der Saison 2019/20 konnte er das eigene Inklusive Schauspielstudio eröffnen, das fünf Menschen ausbildet und in den Theaterbetrieb einbindet. Die Grundvoraussetzung, dort angenommen zu werden, ist nicht besonders eng gefasst: »Es geht um Menschen mit Behinderung, Menschen, die an einer normalen Schauspielschule im Moment noch nicht angenommen würden«, sagt Thomas Braus. »Die Grundvoraussetzung, die bei einem Casting mit mehreren Runden geprüft wird, ist die Bühnenausstrahlung, eine eigenwillige Art, etwas auszudrücken, die sich ausbilden lässt.«
An den meisten normalen Schauspielschulen gibt es bis heute sehr enge Auswahlkriterien. Selbst Menschen mit Migrationsbiographie berichten immer noch von Schwierigkeiten bei der Aufnahme. Ein großes Problem ist außerdem das Alter: Die Schauspielschulen wollen junge, »formbare« Menschen, am besten Anfang 20. Auch das inklusive Schauspielstudio hatte am Anfang eine Altersgrenze von 27 Jahren.
Doch dann kam Nora Krohm. »Ich war der Faktor, der die Altersbeschränkung über den Haufen geworfen hat«, sagt sie und lächelt. Und Thomas Braus ergänzt: »Wir lernen ja auch dazu. Das ist eine sinnlose Barriere wie andere auch.« Nora Krohm ist schon weit in ihren 30ern. Eigentlich wollte sie immer Schauspielerin werden – aber ihr halbes Leben lang wurde es ihr ausgeredet. Am Anfang war es die Familie, die ihr den klassischen Ratschlag gab: »Mach was Vernünftiges.« Und da ihre Behinderung darin liegt »psychische Krankheiten zu haben«, wie sie erklärt, fehlte ihr lange das Selbstbewusstsein, es trotzdem mal mit einem Vorsprechen an den staatlichen Schauspielschulen zu versuchen. Für die privaten fehlte ihr die Finanzierung.
Nachdem sie etliche Jobs durchprobiert hat, spülte das Leben sie 2013 (»ein sehr düsteres Jahr für mich«) nach Wuppertal. Ein Lichtblick war die »Profil«-Maßnahme des Jobcenters, die Menschen mit psychischen Problemen Struktur gibt und die Möglichkeit, kreative Kurse zu belegen. Schließlich packte eine Kollegin sie quasi bei den Haaren und schliff sie zum Casting des Inklusiven Schauspielstudios. Was für ein Glück: Heute wirkt Nora Krohm im Gespräch stark und selbstsicher, gelöst. »Ich bin so happy darüber, dass ich hier gelandet bin. Es hat mir so viel Lebensqualität und Selbstwertgefühl gegeben, das wegen Depressionen und Angstzuständen so weit von mir weggerückt ist.«
Von einem ähnlichen Effekt berichtet Aline Blum, die durch ihre Schwester zum Schauspiel gekommen ist, die in einer Gruppe des Vereins Glanzstoff war. »Ich habe mir das angeguckt und angefangen, mitzuspielen, als ich noch in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung war«, erzählt sie. Schließlich entschied sie sich, im Wuppertaler Studio vorzusprechen und ist genommen worden. »Es ist toll, dass man in verschiedene Rollen schlüpfen kann und selbstbewusster wird«, findet sie.
Mittlerweile hat das Inklusive Schauspielstudio sogar schon eine Absolventin, die ein reguläres Engagement bekommen hat: Yulia Yáñez Schmidt. Sie hat sich nach dreijähriger Ausbildung an 20 Stadttheatern beworben, ist zu fünf Vorsprechen eingeladen worden und jetzt Teil des Ensembles des Jungen Schauspielhauses Düsseldorf. Dass sie ihr Lebensweg noch dorthin gebracht hat, ist alles andere als selbstverständlich, wenn man sich die Geschichte der heute 33-Jährigen anhört.
Keine Chance an Schauspielschulen
Eigentlich ist Yulia Yáñez Schmidt, die eine Beinprothese trägt, in einer Blase groß geworden, in der ihr niemand das Gefühl gegeben hat, anders zu sein. Familie, Freund*innen, Lehrer*innen, Mitschüler*innen – alle haben sie als gleich betrachtet und behandelt. Doch die Kölnerin, die mittlerweile auch ein Zimmer in Düsseldorf hat, weiß, dass die Realität oft noch anders aussieht: »Sie kann sehr grausam und diskriminierend sein. Es passiert immer noch, dass Menschen mit Behinderung nicht als vollwertige Menschen angesehen werden.«
Besonders krass wurde sie mit diesem Umstand bei den Vorsprechen an staatlichen Schauspielschulen konfrontiert. Seit der Schulzeit und der Mitwirkung in verschiedenen Theater-Gruppen war ihr klar, dass sie Schauspielerin werden muss. »Es gab keinen Plan B«, sagt sie. Doch die Jurys an den Schulen waren da anderer Meinung: »Man hat mir gesagt, es lohne sich nicht, in mich zu investieren. Das würde ich doch wohl nachvollziehen können. Wer ‚jemanden wie mich‘ denn engagieren würde?« Sie erinnert sich daran, dass es noch normal war, dass Frauen auch eine Rolle in Rock und hohen Schuhen zu spielen hatten.
Die Rückmeldungen war natürlich furchtbar für das 19-jährige Selbstbewusstsein – und offenbar ein Phänomen deutscher Institutionen. International und in der Freien Szene gibt es schon seit Jahren Mixed-Abled-Ensembles und andere Ausbildungs- und Förderstrukturen.
Yulia Yáñez Schmidt dachte sich also doch noch einen Plan B aus, studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim, spielte nebenbei aber immer Theater in freien Gruppen. Als sie vom Inklusiven Schauspielstudio in Wuppertal erfuhr, nahm sie all ihren Rest-Mut zusammen und meldete sich zum Vorsprechen: »Ich dachte, die können mich zumindest nicht ablehnen, weil ich eine Behinderung habe.«
Heute ist sie mehr als glücklich mit ihrem Engagement im Jungen Schauspielhaus Düsseldorf. »Ich denke, jeder sollte nach einer Ausbildung so anfangen. Das junge Publikum gibt so ehrliche Rückmeldungen. Das ist eine gute Schule.« Nebenbei dreht sie bereits für das Fernsehen – und träumt von einer Welt, in der gar nicht mehr darüber gesprochen wird, dass sie irgendwie anders ist. »Gerade im Theater treffen wir doch eine Verabredung: Da ist doch gar kein echtes Pferd auf der Bühne oder ein echtes Schloss. Warum muss die Königin dann zwei Beine haben?«
Nora Krohm und Aline Blum stehen das nächste Mal in »Pippi Langstrumpf« (Premiere am 23. September) in Wuppertal auf der Bühne.
Alle fünf Mitglieder des Inklusiven Schauspielstudios zeigen am 14. und 15. Oktober den Szenenabend »Rampenschau« mit Studierenden der Folkwang Universität der Künste.
Aus dem Inklusiven Schauspielstudio ist Tim Alberti aktuell in der ARD-Produktion »Rote Rosen« zu sehen.
Am Jungen Schauspiel Düsseldorf spielt Yulia Yáñez Schmidt in der aktuellen Spielzeit in »Time to Shine«, »Das Mädchen, das den Mond trank«, »K wie Kafka« und »Wenn Wolken wachsen« mit: dhaus.de