Dieses Buch hat eine wahre Zeitreise hinter sich: Um das Jahr 1000 nach Christus ließ Berthildis, Äbtissin des Damenstifts Liesborn, für ihr Kloster ein aufwendiges Evangeliar anfertigen. Die kostbare Handschrift mit den Texten der vier Evangelien sollte der Liturgie in der Abteikirche dienen. Auch als das Kloster 1130 in eine Benediktinerabtei umgewandelt wurde, blieb das Buch zentraler Bestandteil von Gebet und Andacht vor Ort. Als schützende Umhüllung bekam das Manuskript im späten 15. Jahrhundert einen hölzernen Einband, der auf dem Deckel eine Kreuzigungsszene und die vier Evangelistensymbole zeigt.
Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann für den Codex eine wahre Odyssee: Im Zuge der Säkularisation wurden 1803 zahlreiche Klöster aufgelöst – auch die Benediktinerabtei Liesborn. Das Evangeliar gelangte zunächst in die Universitätsbibliothek Münster; von dort führte der Weg über zwei britische Privatsammlungen in die USA, wo das Buch weitere Stationen absolvierte, bis es zuletzt in die Obhut der in New York und Chicago ansässigen Galerie Les Enluminures kam. Dort erwarb es schließlich der Kreis Warendorf im Jahr 2017 – unterstützt von etlichen Förderern und Sponsoren kehrte das kostbare Buch in die ehemalige Abtsresidenz, das heutige Museum Abtei Liesborn, zurück.
Von einem »Meilenstein für das Münsterland« sprach damals der Warendorfer Landrat Olaf Gericke. Als weiteren Meilenstein darf man nun die neue Dauerausstellung im Museum Abtei Liesborn ansehen. Denn die Präsentation widmet sich der Frühgeschichte des Klosters, das als Damenstift Mitte des 9. Jahrhunderts gegründet wurde. Und in ihrem Zentrum steht natürlich das Liesborner Evangeliar – eindrücklich inszeniert in einem eigenen Raum.
Sakrale Stimmung
Mit moderner Ausstellungstechnik ist hier ein Ambiente entstanden, das beinahe sakral wirkt – eine Reverenz vor der mittelalterlichen Abteikirche, die das Evangeliar einst wie einen Schrein umgab. Dank des heruntergedimmten Lichts kommt die durch ein Spotlight hervorgehobene Handschrift um so wirkungsvoller zur Geltung. Flankiert wird sie durch 22 Stahlplatten – jede 8 Meter hoch und 2 Meter breit –, auf denen Texte des Evangeliars ausgelasert worden sind.
Eine digitale Klosterbibliothek erlaubt das virtuelle Blättern durch die rund 340 Seiten der Pergamenthandschrift. Als weiteren Service bietet das Museum des Kreises Warendorf eine Transkription des in karolingischen Minuskeln geschriebenen lateinischen Textes, eine deutsche Übersetzung sowie Media-Guides in deutscher, englischer und niederländischer Sprache.
Verbindet man mit »mittelalterlicher Buchmalerei« in der Regel eine reich illustrierte Handschrift, so kommt auch in Codices, die lediglich ‚schön geschrieben‘ sind, eine hohe Kunstfertigkeit zum Ausdruck. Das Liesborner Evangeliar mit seiner zierlich-regelmäßigen Minuskelschrift legt davon Zeugnis ab. Die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind hier in einem Band vereint. Zehn Kanontafeln, in denen die Parallelstellen in den Evangelien verzeichnet sind, dienten den Stiftsdamen als Hilfsmittel beim vergleichenden Lesen.
Bemerkenswert ist nicht zuletzt das lateinische Widmungsgedicht der Stifterin Berthildis sowie ein gezeichnetes Glaubensbekenntnis, auch als Pater-Noster-Diagramm bezeichnet. Eine persönliche Note erhält das Evangeliar dadurch, dass sich einer von drei Schreibern, ein Diakon namens Gerwardus, auf einem der letzten Pergamentblätter mit einer Art Signatur, einem Kolophon, verewigt hat. Wer Gerwardus war, wissen wir nicht. Unbekannt ist auch, wo genau die Handschrift entstand – am ehesten in Betracht kommt eine Werkstatt im Stift Essen oder im Erzbistum Köln. Es gibt also einige Rätsel rund um das Evangeliar, die sich mehr als tausend Jahre später wohl nicht mehr auflösen lassen. Umso spannender ist es, den Stand der heutigen Forschung zu sehen. Und die besondere Aura des kostbaren Buches zu erleben. In einem Museum, das Maßstäbe in Sachen Mittelalter-Vermittlung setzt.