Damals. Heute. Eine deutsche Geschichte, die biografisch in England endet und die in diesem Film in England beginnt und ebenfalls endet, in Sheerness on Sea, dem Sterbeort des Schriftstellers Uwe Johnson und an seinem Grabstein, über den eine Katze läuft. In seinem Haus hing, so wissen wir, eine Karte von Mecklenburg.
Johnson, Jahrgang 1934, ist zehn Jahre älter als Volker Koepp. Geboren im pommerschen Cammin, verlebte er seine Kindheit in Anklam. Das Meer rauscht und gleißt und dauert jenseits des Kanals ebenso wie an der kontinentalen Ostsee. »Und überdies erwies uns die See einige Augenblicke lang die Höflichkeit, so blau zu sein, wie blau nur sein kann.« Schreibt Johnson. Volker Koepp greift es auf in seinem Film »Gehen und Bleiben«, der den Spuren des Autors der vierbändigen »Jahrestage«, der »Mutmaßungen über Jakob« und »Ingrid Babendererde« sanft und hartnäckig folgt.
Koepps Erzählbogen spannt sich notwendig weit vom Nazi-Reich und seinem Grauen, dem Kalten Krieg und geteilten Deutschland und reicht schließlich bis zu Europas Krieg in der Ukraine, der begann, währenddessen Koepp noch an seinem Film arbeitete. »Der Vorbereitung eines Krieges ziehe ich die Vorbereitung des Friedens vor«, wird im Brecht-Archiv auf der Chausseestraße in Berlin Johnsons Satz aus dem Jahr 1972 zitiert.
Der Filmautor spricht mit Schul- und Lebensfreunden, mit Menschen aus der Landschaft Mecklenburg / Pommern, aus Rostock, Schwerin, Althagen, Güstrow und Jerichow, auch aus Leipzig und Berlin, darunter der Schriftstellerin Judith Zander, dem Schauspieler Peter Kurth und dem Regisseur Hans-Jürgen Syberberg (geb. 1935) in dessen Geburtsort Nossendorf, bei denen Innenansicht und Fernsicht, Nähe und Distanz zur Heimat ihre Erfahrung, Betrachtung und ihr Gedächtnis prägen und mit Uwe Johnson Texten korrespondieren.
Vielleicht ist Johnson auf ähnliche Weise heimatlos gewesen und zuhause weder in Ost noch West noch in New York, wohin auch an den Riverside Drive seine Romanheldin Gesine Cresspahl mit der Tochter Marie zieht, wie der Kollege Thomas Brasch.
»Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen.« Dies der erste Satz der »Jahrestage«. Die Bilder sind in »Gehen und Bleiben« so wesentlich wie die Worte. Der feine Strich von Wiesen, Weiden, Feldern und Wäldern, Bächen und Stränden und des Himmels, gleichmäßig und gleichmütig fotografiert. Dörfer, Kirchen aus Feldstein und rotem Backstein, u.a. dem Dom von Gütrow mit Barlachs »Der Schwebende«, Schlösser und Burgen, dazwischen Windräder. Koepps Uhren gehen anders. Bei ihm erfahren wir, wie die Zeit weniger vergeht, als vielmehr stille steht.
1944 im pommerschen Stettin geboren, gelernter Maschinenschlosser, ausgebildet an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg, Defa-Regisseur und freier Künstler, hat Koepp seit 1967 ein geradezu monumentales filmisches Werk geschaffen, darunter den Wittstock-Zyklus, sein Czernowitz-Memorial und so vieles mehr, darin sich Lebensgeschichte, Sozialgeschichte, Kultur- und Naturgeschichte und politische Geschichte sublim verbinden. Der vielfach ausgezeichnete große Chronist und Fontane des Dokumentarfilms hält seiner nordöstlichen Heimat die Treue.
Gegenwart ist bei Koepp nie ohne Vergangenheit da und zu haben. »Landstück« (2016) etwa zeigt die Uckermark als gefährdete blühende Landschaft, aber beileibe nicht als Idyll. In »Seestück« (2018)wühlt und rauscht die Ostsee wie im Zorn. Fischer, Seeleute, Naturfreunde, Philosophen, Wissenschaftler erzählen. Die Idee von der Freiheit auf dem Meer an der vorpommerschen Küste, dem Caspar David Friedrich-Land, und weiter hinaus nach Skandinavien und ins Baltikum, sie kollidiert mit unserer Hybris. Dem Menschen ist die Schöpfung nicht mehr heilig.
Koepp spürt – immer – bedachtsam, feinsinnig und ruhig dem Geist der Natur nach und findet über deren Gleichklang und Kreislauf den Bezug zum Gesellschaftlichen und zu dessen (Fehl-)Entwicklungen. Natur und Künstlertum aber mögen einander wohl nahe verwandt sein.
»Gehen und Bleiben«, Regie: Volker Koepp, Deutschland 2023, 168 Min., Start: 20. Juli
Eine deutschlandweite Tournee mit dem Film bis Ende August macht Station auch in Bonn und Köln, jeweils am 20. August in Anwesenheit von Volker Koepp.