Einsam steht der Wanderer auf dem Berg, auf dem Kopf den Zylinder, in der Hand den Wanderstock. Er blickt ins ferne Tal und in die untergehende Sonne, die ein verfallendes Haus im Bildvordergrund filmartig ausleuchtet. Das kunstsinnige Auge erkennt ein Motiv von Caspar David Friedrich – aber wieso sieht das Dach des Hauses aus wie eingeschmolzen und die Vogelschwärme am Himmel wie Wurmlöcher? Und warum sind die Farben so grell?
Geschaffen hat das Bild die Künstliche Intelligenz »Midjourney«, die das Motiv auf folgenden Befehl hin generierte: »Sonnenuntergang im Weserbergland, Deutsche Romantik«. Die Vorgaben stammen von den Kuratoren Hendrik Tieke und Stefan Meyer, alles andere von der KI – auch der Begleittext, den eine andere KI namens neuroflash produziert hat. »Nicht immer ergibt dieser Text auch Sinn«, wird der Besucher eingangs gewarnt. In diesem Fall liest man staunend, dass die Sonne über dem Weserbergland untergehe, weil sich in diesem Gebiet die Zeit langsamer abspiele – eine Studie der Universität Potsdam habe das herausgefunden.
Wer nun schmunzeln muss, dem wird auch der Rest der Ausstellung Spaß machen. Keiner der Digitaldrucke, die in der ersten Etage der prachtvollen Jugendstil-Villa der ostwestfälischen Kurstadt großformatig zu sehen sind, wurde von menschlicher Hand entworfen. Das Oberthema sind, natürlich, Märchen und Sagen – und die bei der KI in Auftrag gegebenen Stilrichtungen reichen von römischem Mosaik bis Manga. Die Kuratoren baten die KI um einen Kupferstich von Schneewittchen, das die sieben Zwerge anschreit, wünschten sich den »Gestiefelten Kater« im Stil des Comic-Künstlers Winsor McCay oder gaben ein Pop-Art-Porträt von Hans Christian Andersen als US-Präsident in Auftrag. Nicht immer war der erste Versuch der KI gleich ein Treffer – mitunter entschieden sich die Kuratoren erst für die zweite oder auch 25. Version eines hammerwerfenden Thors im kubistischen Stil.
Sieben Geißlein als Punkband
Der (un)heimliche Höhepunkt der Ausstellung aber sind die sieben Geißlein, die nach Wunsch der Ausstellungsmacher als Punkband dargestellt werden sollen, und zwar im Stil des Impressionisten Edgar Degas. Das Ergebnis macht sprachlos – vor Lachen, aber auch vor Erstaunen. Vier zarte Ziegen mit tätowierten Armen und E-Gitarren röhren den Betrachter an, rosafarbene und hellblaue Tüll-Schleifchen zwischen ihren spitzen Ohren. Im Text heißt es, dass sich die Band für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Frieden einsetze und den Menschen Hoffnung geben möchte. Überhaupt sind viele der von neuroflash generierten Texte auffallend diplomatisch formuliert und politisch korrekt in Duktus und Wortwahl.
»Alles Kunst« ist in dieser Ausstellung keine Frage, sondern eine Feststellung: Hier ist alles künstlich; präsentiert werden, wie der Untertitel ganz unironisch verspricht, »Meisterwerke der Künstlichen Intelligenz«. Es geht nicht darum, »wahre Kunst« zu unterscheiden und abzugrenzen. Hier präsentiert sich die KI ganz selbstbewusst und zeigt den erstaunten Besuchern, was sie – ein knappes Jahr, nachdem sie öffentlich verfügbar gemacht wurde – schon gelernt hat und auch, wo es noch hakt – zum Beispiel an der Modellierung von Händen und Füßen. Fehler sind in fast jedem Bild deutlich sichtbar – doch man ahnt, dass die Perfektion nicht mehr weit ist.
Unausgesprochen im Raum steht vielmehr die Frage der Autorenschaft, angedeutet auch durch die vielen im Ausstellungsraum verteilten weißen Masken: Ist die KI der Schöpfer und Künstler dieser Ausstellung? Oder sind es nicht vielmehr diejenigen, die die KI mit subversiver Neugier und großem Spaß ausgetestet haben – also der menschliche Genius und Wille hinter der algorithmischen Produktion?
Alles Kunst. Meisterwerke der Künstlichen Intelligenz.
Bis 30. Juli
Doppelausstellung im Deutschen Märchenmuseum Bad Oeynhausen und Museum
Eulenburg, Rinteln