»Das Mama- und Papaspiel« ist kinderleicht. Zwei, nennen wir sie wie Thorsten Lensing es in »Verrückt nach Trost« tut, Felix und Charlotte, messen sich die Rollen ihrer Eltern an und deren Muster und Manieren, um mit sich, dem Partner beziehungsweise der Partnerin und dem Nachwuchs umzugehen. In einer Strandszene wringt sie ihm sein Shirt aus, schneidet ihm die Zehennägel und findet seinen Fußpilz eklig, er reicht ihr eine Dose Bier, und sie versuchen Küsse, als ob nichts sei. Was Erwachsene halt so tun.
Abgeschaut dem Imitation Game von Kindheit, formt sich eine theatrale Miniatur. Auch Lensing könnte sagen, was Jürgen Gosch gesagt hat: dass ihn nichts so sehr fasziniere, wie Kindern beim Spiel zuzusehen, um zu erkennen, wie weit man dabei gehen könne, ob und wie sich Spielregeln setzen und ausdehnen. Lensing würde es vermutlich auf das Beobachten von Tieren ausweiten.
Nachstellen, Verstellen, Aus- und Vorstellen sind Beweg- und Urkräfte für das Theater. Oder auch seine Initialzündung. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren, die Anwesenheit der Abwesenden, auch das steckt in der Anverwandlung und Simulation von Felix und Charlotte, die bei Devid Striesow und Ursina Lardi ziemlich erwachsen aussehen, mithin Vater und Mutter sein könnten. Die gespielten Eltern sind anscheinend tot. Ist es Schmerztherapie, Erinnerungsproduktion, Glücksgewinn oder -ersatz, heilsamer Zustand der Phantasie? Wir dürfen fragen, aber erwarten keine Antwort. Weshalb auch sollte man die haben wollen. »Wenn man schweigt, hat man ja auch selbst mehr Ruhe«, befindet Striesow einmal.
Debüt als Dramatiker
Der 1969 im Münsterland geborene, in Berlin lebende Theatermacher Thorsten Lensing meidet das System und macht lieber (und besser) sein eigenes Ding, seit beinahe drei Jahrzehnten in jeweils zeitlich langen Abständen und in Koproduktion mit Stadt- und Staatstheatern, freien Theatern und Produktionsstätten, darunter das nach Gewohnheitsrecht mit dem ius primae noctis ausgezeichnete Theater im Pumpenhaus Münster. So sind kondensierte und konzentrierte, kluge, einfache, vom Geist schauspielerischer Intuition getragene Aufführungen unter anderem mit Stücken von Tschechow und Dostojewski, zuletzt (2019) mit David Foster Wallaces »Unendlicher Spaß« entstanden, der einen beinahe unendlichen Erfolg bescherte.
Lensing baut sich für die Aufführungen gewissermaßen sein eigenes Actor’s Studio, eine lose feste Gruppe von Solisten, die ein eingespieltes Kammerensemble bilden. Hier sind es, wiederum, Ursina Lardi, Sebastian Blomberg, André Jung und Devid Striesow, die das Quartett von »Verrückt nach Trost« bilden und für die und auf die hin das Stück geschrieben wurde: Lensings Debüt als Dramatiker, das – so viel hochkultureller Glanz darf sein – bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt und gefeiert wurde.
Ein Theaterleben ohne Lardi, Blomberg, Jung und Striesow ist möglich, aber sinnlos, um ein Wort von Hunde-‚Herrchen’ Loriot abzuwandeln und anzuwenden auf Lensings »Trost«-Szenen und -Episoden von Kindheit bis Alter, von Frau und Mann, Mann und Mann, Tier (Schildkröte, Orang-Utan, das Superhirn Oktopus) und Mensch.
Am Anfang ist das Wort. Und dafür braucht es den göttlichen Atem, wie der Bibelfeste weiß. In der (mit Pause) vierstündigen, sich unter ihrer nachgiebig lockeren Oberfläche vernetzenden Menschen-Erzählung kommt Spirit auch von Sprit – denn Energieeinsatz und -verbrauch der vier Aktionisten ist enorm. Metall rattert blechern, Walnüsse purzeln, ein Strick baumelt. Wir erleben das Lob der Familie und ihre Krisenmomente mit einem brabbelnden, brüllenden Baby (Striesow), wenn wir ein kurz Weilchen in eine Romangeschichte springen, nachdem Lardi ein Buch aufklappt; geraten nicht nur bei Blomberg in die Verschlingungen des Slapsticks, haben tierisches Vergnügen an Jungs Affentheater, an Lardi als hirn- und herzhafter, gymnastisch die Glieder auskragendem Polyp und an Blombergs Einsamkeit des Tauchers, wenn er aus dem Meer an Land steigt.
Wir betrachten lächelnd versonnen die Lehrjahre des Gefühls, die kleinen Trauer- und Verlustanzeigen (Blomberg: »Meine Frau hat vergessen, mich zu verlassen«), Fühlungnahme und Etüden der Empfindung (Striesow & Jung) und schließlich eine unsentimentale Einsamkeitsstudie an Charlottes 88. Geburtstag, nachdem sich der Bühnenlebensraum der Todesnahen extrem minimiert hat und sie mit ihrem Pflegeroboter und beider »unverwüstlichen Zerbrechlichkeit« allein ist.
Wovon erzählt der Abend in seiner freisinnig weltfrommen und herzlich anarchischen Unangestrengtheit? Von Naturphänomenen, ja sogar vom Wetterbericht in einem poetisch-romantisch versponnenen und parodistischen Solo Striesows. Evolutionäres Theater, das uns spielerisch erleuchtet und kunstvoll einen paradiesisch irdischen Zustand herbeiführt. Der letzte Satz lautet: »Alle werden erlöst«. So lässt sich an den Theaterhimmel auf Erden glauben.
asphalt Festival Düsseldorf
Gastspiel im Schauspielhaus
1. und 2. Juli