Es war einer der tödlichsten rechtsextremistischen Anschläge in der jüngeren deutschen Geschichte: Am 19. Februar 2020 erschoss ein 43-Jähriger in Hanau innerhalb von sechs Minuten neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Der Täter hasste Migrant*innen, seine Opfer wählte er nach ihrem Aussehen aus, nach ihrer Haar- und Augenfarbe. Der Täter hatte keine Liste. Aber »wer würde auf so einer Liste stehen«? Diese Frage nach rassifizierenden Urteilen stellt sich die Münsteraner Dramaturgin Victoria Weich jetzt häufiger. »Tuğsal würde es und ich nicht, schon allein wegen seines Namens.«
Tuğsal Moğul ist Regisseur, Autor, Schauspieler und Arzt. Er wurde in Neubeckum geboren, hat die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft. Er schrieb und inszenierte Abende wie »Wir haben getan, was wir konnten«, 2020 am Schauspielhaus Hamburg, eine medizinisch-theatrale Recherche zum maroden Gesundheitssystem. Oder »Die deutsche Ayşe«, 2013 am Theater Münster, ein Porträt über drei starke Frauen und die Anfänge der Migration in Deutschland. Oder »Auch Deutsche unter den Opfern« zum NSU-Komplex, uraufgeführt 2015 am Theater Münster, ausgezeichnet mit dem Monica Bleibtreu Preis, eingeladen zu den Autorentheatertagen Berlin und zum Heidelberger Stückemarkt. Jetzt bearbeitet er für die Ruhrfestspiele und in Koproduktion mit den Theatern Münster und Oberhausen das Attentat von Hanau. Das Recherchestück »AND NOW HANAU« feiert am 12. Mai Uraufführung im Großen Sitzungssaal im Rathaus Recklinghausen, bewusst ein öffentlicher Ort, an dem sonst Politik gestaltet wird.
Seit zwei Jahren recherchiert Moğul zum Thema, hat Kontakt mit der »Initiative 19. Februar Hanau« aufgenommen, Gespräche mit den Opferangehörigen geführt, ist zu Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen gefahren, hat den Untersuchungsausschuss in Wiesbaden besucht. So eng, so nah habe er sich bislang noch nie mit Opferangehörigen auseinandergesetzt. Auch die Originalzitate im Stück habe er mit ihnen abgesprochen. Es ist das erste Mal nach einem rassistischen Anschlag, dass – dank der Arbeit der Initiative – die Perspektive der Opfer in der Öffentlichkeit in den Vordergrund rückt. Genau da setzt auch Tuğsal Moğuls Arbeit an. »Eine Psychologie des Täters zu entfalten, das interessiert uns nicht«, erklärt Victoria Weich.
Wann kippen Normalitäten?
So viele Fehler sind vor, während und nach dem Anschlag passiert – der nicht erreichbare Polizei-Notruf, der verschlossene Notausgang in der Hanauer ArenaBar, die zu spät informierten Opferangehörigen, falsch zugestellte Kleidersäcke der Opfer, falsch ausgestellte Totenscheine. Die Liste ist lang. »Alle Institutionen kommen schlecht weg«, sagt Moğul. Von der Polizei, über die Landesregierung bis zur Staatsanwaltschaft. »Da sind Sachen passiert, die fassungslos machen. Es wurde dilettantisch, ja schlampig und zynisch mit den Opferangehörigen umgegangen.« Eingeständnisse und Entschuldigungen stünden bis heute aus. Es seien auch keine Köpfe gerollt. Im Gegenteil: Jemand wie Hessens Ministerpräsident sei 2022 sogar mit einem Zapfenstreich feierlich aus dem Amt verabschiedet worden.
Tuğsal Moğuls Haltung ist eindeutig in dieser Inszenierung. Er selbst hat seine Erfahrungen gemacht in Deutschland, Alltagsrassismus allerorten. Von einem Thema wie Hanau fühle er sich sofort getriggert. Zum dritten Jahrestag am 19. Februar ist die Produktion fast komplett nach Hanau gefahren. Diese Märchenstadt, in der die Brüder Grimm zuhause waren, wirke so alltäglich, meint Weich, fast langweilig. »Man vermutet nicht, dass jemand um die Ecke kommt, um mit seinen eigenen Waffen ganz präzise neun Menschen umzubringen.« Wann kippen Normalitäten? Diese Frage stelle auch die Inszenierung. Hanau ist überall – das sei ein Grundmotor des Abends. Ihre Erzählung habe städteübergreifende Bedeutung, weil Rassismus überall stattfinde, nicht nur in Hanau. Die vier Schauspieler*innen (Alaaeldin Dyab und Agnes Lampkin vom Theater Münster, Regina Leenders und Tim Weckenbrock vom Theater Oberhausen) nehmen entsprechend eine Art Stellvertreter*innen-Position ein. »Aus den persönlichen Erinnerungen der Opferangehörigen machen sie welche, die kollektiv funktionieren«, erklärt die Dramaturgin.
Das Projekt berührt alle Beteiligten, wenn auch sicherlich auf verschiedene Weise. Tuğsal Moğul sagt, es gehe ihm nahe, aber es gebe ihm auch Kraft. »Solche Projekte gehören auch auf den Spielplan der Theater.« Der Abend will der Sprachlosigkeit entgegenwirken, weiter an die Opfer erinnern. Ruhrfestspiele-Intendant Olaf Kröck beschreibt es im Programmbuch so: »Der Abend klärt auf, fragt nach und sorgt dafür, dass ungehörte Stimmen und Perspektiven gehört werden können«. Politisches Theater mit aufrechter Haltung, ganz im Sinne der Ruhrfestspiele.
»AND NOW HANAU«
12., 13. und 14. Mai im Rathaus Recklinghausen
Podiumsdiskussion am 14. Mai
ab 26. Mai im Rathausfestsaal bzw. Gerichtssaal Münster