Am Ende ist es eine Szene am 80 Meter langen Gradierwerk in Bad Salzuflen, die das Konzept »Kur« in einem Bild darstellt. Eine alte Dame ruckelt mit ihrem Rollator entlang der fast neun Meter hohen Wand aus Schwarzdornbündeln, in denen sich durch jahrelanges Herabrieseln der Sole, also des Salzwassers, Kalk und Eisenoxid dick abgelagert haben. Sie kommt an einem Akkordeonspieler vorbei, der recht gekonnt den italienischen Schlager »Bella ciao« interpretiert. Da lässt die Dame ihren Rollator stehen, macht beschwingt einige Tanzschritte, dreht sich gar um die eigene Achse, strahlt, verneigt sich kurz vor dem zahnlos lachenden Musiker – und setzt ihren Weg mit dem Rollator fort, die salzige Luft der verdunstenden Sole atmend.
Es ist diese unschlagbare Kombination, die das deutsche Kurwesen lange Jahrzehnte so enorm erfolgreich gemacht hat: Anderswo auf andere Gedanken kommen, an den örtlichen Heilmitteln genesen, seien es Salzluft, Moorbäder oder Mineralquellen, und dabei ein Stück Leichtigkeit zurück gewinnen. Kurorte gibt es überall in Europa, doch nirgends so viele wie in Deutschland – und besonders viele in Ostwestfalen-Lippe. Sie entstanden im 18. oder 19. Jahrhundert, als es unter den adeligen Regenten Mode wurde, ein eigenes Bad rund um die häufig bei Bohrungen auf der Suche nach Steinkohle oder Steinsalz entdeckten Sole- oder Thermalquellen zu gründen. Es entstanden Kurparks mit schlossartig anmutenden Badehäusern, Theatern, Casinos und Wandelhallen, die dem Adel willkommene Abwechslung und eine neue Kulisse der Selbstinszenierung boten.
Doch auch die Arbeiter aus den Großstädten profitierten, sie konnten zeitweise den Zumutungen der Industrialisierung entfliehen und in der Provinz wieder zu Kräften kommen. In den Wirtschaftswunderjahren des 20. Jahrhunderts war es die Kriegsgeneration, die sich in den Bädern erholte, unterstützt durch ein Gesundheitssystem, das auf die heilende, aber auch präventive Wirkung mehrwöchiger Auszeiten setzte.
Damit war es spätestens Ende der 1990er Jahre vorbei. Gesundheitsminister Horst Seehofer machte das Kuren deutlich unattraktiver. Die Gesundheitsreform verkürzte die Dauer, erhöhte eigene Zuzahlungen und erschwerte Genehmigungen der Krankenkassen. Aus der Kur wurde die Reha, in Bad Oeynhausen etwa entwickelte sich ein weltweit bekanntes Herz- und Diabeteszentrum sowie eine Vielzahl an Rehakliniken. Der klassische Kurgast jedoch mit seinen Ansprüchen zwischen Fango und Tango blieb aus. »Das deutsche Bad geht baden«, titelte die Süddeutsche Zeitung 2017.
Nun ist das Herz von Kurorten wie Bad Oeynhausen nicht die Kirche, sondern die Quelle: Die Stadt gründete sich erst 1860 um die Thermalsolequelle herum und wurde konsequenterweise nach ihrem Entdecker benannt, Freiherr Karl von Oeynhausen. Was, wenn die Quellen zwar noch sprudeln, aber die Menschen ausbleiben? Im 158. Jahr ihrer Gründung holte sich die Stadt Unterstützung bei Beratungsfirmen, um neue Tourismuskonzepte aufzusetzen. In SWOT-Analysen arbeitete sie ihre Stärken und Schwächen, Risiken und Chancen heraus. Dann kam Corona – und ausgerechnet in der Zeit der Lockdowns und der Einschränkungen warf die Gesundheitspolitik einen Schwimmring in Richtung der untergehenden Bäder. »Ambulante Vorsorgemaßnahmen« – also die klassischen Kuren – sind seit Juni 2021 wieder eine Pflichtleistung der Kassen. Wer sie vom Hausarzt verschrieben bekommt, muss zwar seinen Urlaub opfern, bekommt aber einen Zuschuss zur Unterbringung und die Arzt- und Therapiekosten komplett bezahlt. Eine rettende Idee? Oder ist das Konzept Kur heute rettungslos veraltet?
Denise Gruber, 52 Jahre alt, leitet das sechsköpfige Staatsbad Orchester, eines der letzten Kur-Orchester in Deutschland mit fest angestellten Musikern. Eben noch hat sie in der Wandelhalle des Staatsbads Oeynhausen Erich Kästners »Sachliche Romanze« vorgetragen, anschließend »Schöner Gigolo, armer Gigolo« gesungen und dazu die Geige gespielt. Nun hat das Ensemble, das heute als Trio auftritt, Pause, und die festlich gekleidete Orchesterleiterin stöckelt auf hohen Stilettos von der Bühne, nach links und rechts freundlich einige Stammgäste grüßend, vorbei an einer Reihe geparkter Rollstühle und Rollatoren, um sich ein Glas aus der örtlichen Wittekind-Heilquelle einschenken zu lassen – mineralisch-muffig schmeckendes, eisenhaltiges Wasser. »Langsam trinken und kleine Schlucke nehmen!«, ermahnen die ausschenkenden Brunnendamen die Badegäste, und erkundigen sich nach Herz- oder Niereninsuffizienz. Wer verneint, wird ermuntert, bis zu vier Gläser zu trinken – »vor allem, wenn Sie zu Verstopfung neigen!«
»Musik ist für uns ein Kurmittel«
Christian Barnbeck von der Staatsbad Oeynhausen GmbH
Denise Gruber trinkt das Wasser regelmäßig – »ansonsten fehlt mir richtig etwas«, sagt sie. Bevor sie 2018 die Leitung des Kur-Orchesters übernahm, war sie selbst in Bad Oeynhausen zur Kur. Früher spielte die gebürtige Schweizerin in großen Sinfonieorchestern, am Theater Freiburg, im Kammerorchester Basel. »So ein Kurorchester gilt ja als verstaubt«, sagt sie und lacht, »man denkt, da spielen ein paar Hanseln fünfmal am Tag die immer gleichen Walzer, vor fünf bis zehn Leuten.« Gruber pfeift aufs Klischee, erfindet ihr Programm immer neu, verordnet ihrem Ensemble tägliche Proben und schwärmt für die Chancen und Freiheiten, die sie mit der kammermusikalischen Besetzung hat. Sie ist Musikerin, Moderatorin, Dirigentin, Vermittlerin in einer Person. Belohnt wird sie nicht nur mit dem festen Arbeitsplatz an einem Ort, in dem andere Urlaub machen, sondern auch durch das unmittelbare, begeisterte Feedback ihres Publikums. »Reha-Patienten erzählen mir oft, dass unsere Musik für sie mit ausschlaggebend für die Heilung war«, sagt sie. »Das gibt dem Musizieren noch einen ganz anderen Sinn.«
»Musik ist für uns ein Kurmittel«, bestätigt Christian Barnbeck von der Staatsbad Oeynhausen GmbH, »genau deshalb leistet sich Bad Oeynhausen ein eigenes Orchester. Musik und Theater gehören zur DNA eines Kurortes, das war schon für den Badearzt im 19. Jahrhundert klar.« Die Empfehlung aus der SWOT-Analyse von 2018, die Oeynhausen in Auftrag gegeben hatte, wurde niemals umgesetzt – sie lautete, sich als »Kultur-Bad« zu profilieren. Man war ja längst eines. »Das Badewesen ist per se eine europäische Kultur, und es lebt von Kultur«, sagt Barnbeck.
Das Heilwasser? Mineralien-Booster für Veganer
Stattdessen besinnt man sich in Bad Oeynhausen zurück auf die klassische Therapie mit Thermal- und Solequellen, stellt etwa die Wirkung des Heilwassers wieder in den Vordergrund, das erst seit kurzem durch die beratenden Brunnendamen verabreicht wird. Allein dadurch, sagt Barnbeck, habe sich der Ausschank des (kostenlosen) Heilwassers vervielfacht. Eine neue Zielgruppe ist dabei der Veganer: Wer sich gänzlich ohne tierische Produkte ernährt, erfährt durch einen Schluck aus dem Wittekindbrunnen einen wahren Mineralien-Booster, wirbt Barnbeck. »Wir wollen weg vom Klischee der Rentenkur der Nachkriegszeit, hin zum modernen Kurort, der seine Tradition nicht aufgibt.«
Barnbeck, 36, selbst ist Teil des Strukturwandels, der den altehrwürdigen Kurort ergriffen hat: Angefangen hat der gebürtige Bad Oeynhauser und studierte Archäologe als Stadtführer, seit einem Jahr stellt er sich als »Projektreferent Gesundheit« vor – eine Stelle, die es bei der Staatsbad GmbH zuvor nicht gab. Seine Mission: die ganzheitliche Vorsorge wieder voranzutreiben. Was den Menschen in der Industrialisierung geholfen habe, könne im Zeitalter der Digitalisierung nicht falsch sein, findet er: »Die Leute sehnen sich nach Rückzugsorten, nach Natur, Ruhe und traditionellen Heilmethoden. Sie haben Sehnsucht nach Abstand von Lärm, Hektik und Gedränge. Da sind Kurbäder einfach prädestiniert und mit ihrem Anliegen absolut modern.« Gezielt angesprochen werden etwa Menschen mit drohendem Burnout, Erschöpfung, Tinnitus oder Rückenproblemen.
Und so bieten Kurbäder wie Oeynhausen oder Salzuflen neben Trinkkuren und den klassischen Wannenbädern im warmen Thermal- oder salzigen Solewasser heute auch meditative Klangschalen-Konzerte in der Salzgrotte oder »Salz-Meditation«, man trifft sich in Salzuflen zum Qi Gong im Park oder praktiziert Atem-Yoga am Erlebnis-Gradierwerk, das man betreten kann: Wer die 44 Stufen erklimmt, hat eine gute Aussicht auf die Kuranlage, innen lockt eine Sole-Nebelkammer, in der man bei sanfter Musik und unter einem farbig leuchtenden Sternenhimmel Aerosole einatmet.
Die Mission der Kurbäder ist es, die Gesundheit zu erhalten – doch sie erhalten noch etwas anderes: Die Kur-Kultur selbst, und im besten Fall auch die Kur-Architektur. Bad Oeynhausen nennt sich selbst ein Architekturmuseum des 19. Jahrhunderts: Zur neoklassizistischen Wandelhalle mit ihren dorischen Säulen gesellen sich das top-sanierte Badehaus des Schinkel-Schülers Carl Ferdinand Busse von 1857 und ein weiteres Badehaus im Stil der Neo-Renaissance. Dazu kommen das neobarocke Kurhaus von 1908, in dem das GOP-Varieté logiert, ein Kurtheater im Stil des Neo-Rokoko und ein von Peter Joseph Lenné entworfener Park, der an einen englischen Landschaftsgarten erinnert. An den Wochenenden wimmelt es hier von Hochzeitspaaren, die das architektonische Disneyland als Kulisse nutzen.
Zum Tanztee nach Bad Salzuflen
Auch ein Gang durch den Kurpark im 24 Kilometer entfernten Bad Salzuflen ist eine Zeitreise – allerdings in eine Ära 100 Jahre später. Die 1960er Jahre sind dort aufs Allerschönste konserviert, Wandel- und Konzerthalle bilden ein liebevoll saniertes, denkmalgeschütztes Ensemble. Über der Bühne prangt eine Badeszene aus Mosaikfliesen neben einer meterhohen Mosaik-Wanduhr. Es gibt mosaikbesetzte Säulen und hinter der Theke für den Heilwasser-Ausschank einen goldenen Mosaik-Brunnen. Dazu die zeittypischen Lüftungsgitter aus Messing, bumerangförmigen Türgriffe, die Schlichtheit und Lichtheit der Architektur dank bodentiefer, einfach verglaster Fenster. Fast täglich spielt hier das Kur-Orchester, einmal im Monat gibt es einen Tanztee.
Eine neu eingerichtete Ausstellung in der Wandelhalle erzählt vom Kuren zur Bauzeit der Halle und des benachbarten Konzerthauses: als Udo Jürgens und Roy Black sich das Mikro in die Hand gaben, als durchgehende Züge von Hamburg oder München nach Bad Salzuflen fuhren und die 500 Mitarbeitenden des Staatsbades graue Uniformen inklusive Mütze trugen. Darin vertrieben sie die Kurgäste von den gepflegten Wiesen des Kurparks und hatten die Schlüsselgewalt über den »Gurgelraum für Damen« oder die »Toilette für die Wärterin«, wie das in der Ausstellung präsentierte Schlüsselverzeichnis verrät.
Hakan Oduncu hat auch viele Schlüssel, er muss jedoch keine Uniform mehr tragen, sondern eine blaue Wetterjacke mit dem Logo und der Aufschrift »Staatsbad Salzuflen«. Ob die Parkbesucher die Wiesen betreten, ist ihm egal – seine Aufgabe ist eher, zu verhindern, dass die Trinkgläser, Aschenbecher oder Zigarettenspender aus der Ausstellung abhandenkommen. Die Designklassiker aus den 1960ern sind schwer angesagt – vermutlich ein gutes Omen für eine Renaissance der klassischen Kur, die noch dabei ist, sich gegen ihre oberflächliche Schwester, die Wellness, zu behaupten. Das tut sie langsam, ausdauernd und nachhaltig, eben so, wie eine Kur sein und vor allem wirken sollte. Oder, wie der Liedermacher und gebürtige Bad Salzufler Bernd Begemann sang: »Es wär‘ das Ende von Kummer und Leid / Bad Salzuflen weltweit«.