Das Internationale Frauen Film Fest Dortmund und Köln im 40. Jubiläumsjahr: Das Programm mit Wettbewerb, Panorama, dem Fokus Kompliz*innen und queerer Filmlust schaut zurück in die Frühzeit des Kinos, hält die Augen offen für die Gegenwart und hat die Zukunft im Blick. Eine Auswahl.
Selbstermächtigung und Solidarität
Blandine Lenoirs Eröffnungsfilm: »Angry Annie«
Vor wenigen Wochen gab Präsident Macron seine Absicht bekannt, das Recht auf Abtreibung, das seit 1975 besteht, in der französischen Verfassung zu verankern. Dass wird nicht nur als Verbeugung vor feministischen Organisationen, sondern auch als Reaktion auf den Obersten Gerichtshof in den USA und dessen Entscheidungen interpretiert, um eine grundlegend andere – europäische – Wertevorstellung zu dokumentieren. 50 Jahre zurück, 1973 in Frankreich. Noch verbietet das Gesetz den Schwangerschaftsabbruch. Annie, Mutter von zwei Kindern und Fabrikarbeiterin auf dem Lande, traut sich – ängstlich – ins Hinterzimmer einer Buchhandlung. Dort trifft sich eine illegale Selbsthilfegruppe, eine von Hunderten in Frankreich, die untereinander gut organisiert sind. Sie vermitteln die unkomplizierte Behandlung mit der Karman Methode, um den massiveren chirurgischen Eingriff zu vermeiden. All diese Frauen sind wie Annie (Laure Calamie): verletzt und verstört, angesichts der körperlichen und psychischen Belastung, auch wegen des institutionellen Drucks und nicht selten persönlich erfahrener Feindseligkeit. Hier die beruhigende, fürsorglich mitfühlende Atmosphäre, in der eine Abtreibung vorbereitet, erläutert und durchgeführt wird, dort männliche Autorität, die Frauen moralisch diskreditiert, ihre sexuelle Autonomie inkrimiert und soziale Kontrolle ausübt. An zentraler Stelle montiert die Regisseurin Blandine Lenoir den dokumentarischen Ausschnitt einer Talkshow ein, in der die Schauspielerin Delphine Seyrig das Aufbegehren vehement rechtfertigt. Erzählt entlang der historischen Vorgänge, ist »Angry Annie« die Geschichte von Selbstermächtigung und Solidarität. Zunächst der von Annie, die sich von der ‚Patientin’ zur lernenden, engagierten Protagonistin im gesellschaftlichen Kampf und praktischen Handeln entwickelt und dafür sogar ihre Ehe riskiert. Dahinter erhält die gesamte Bewegung MLAC Profil, die den Wandel der Öffentlichkeit schafft, nicht ohne kontrovers geführte Debatten über den richtigen Weg und politische Aktionen. Allein die Szene, in der Frauen einen jungen Arzt in den medizinischen Behandlungsstuhl setzen, damit er spürt, in welch ganz konkreter Lage sich die entblößte Schwangere befindet, ist den Film wert. Aus Erfahrung klug werden!
18. April, 19 Uhr, CineStar Dortmund
20. April, 17 Uhr, Filmhaus Köln
21. April, 20.30 Uhr, Schauburg Dortmund
Die Kopfwunde
Wettbewerb II: Angela Schanelecs mit einem Silbernen Bären ausgezeichneter »Music«
Ein Unglück ist geschehen – ein Kind wurde geboren. Ein Unglück ist geschehen – ein Mann wurde getötet. Jahre später: Jon ist 20 Jahre alt. Er wuchs bei Stiefeltern auf, seit das Baby aus einer Steinhütte irgendwo in Griechenland geborgen wurde. Wir sehen seine blutenden Füße, als er nach einer Reifenpanne aus dem Auto steigt. Jon(athan) bandagiert sie. Er wird überfallen und tötet einen der Angreifer, Lucian, in Notwehr oder aus tiefem Erschrecken. Jon (Aliocha Schneider) hat ihn weggestoßen, womöglich erschlagen, nachdem der Andere versucht hatte, ihn zu küssen. Was Jon nicht weiß: Es ist sein leiblicher Vater gewesen. Jon muss ins Gefängnis, wo Mitgefangene – alle in weißen Häftlingstrikots – auf Kothurnen gehen und die Aufseherin Iro (Agathe Bonitzer), jung und zartfühlend, sich um ihn kümmert. Wieder vergehen Jahre. Nun in Freiheit, ist Jon mit Iro zusammen und hat mit ihr eine Tochter. Gemeinsam besuchen sie seine Stiefeltern in ihrem idyllischen Heim. Aber das ist schon zu viel Einordnung und Erklärung. Angela Schanelec gibt sich damit nicht ab. Sie interessiert sich nicht für das Handlungsgerüst, vielmehr für die Ablagerungen dazwischen. Das Erzählte hat seine eigene Logik, die Zeit nimmt keine pfeilgerade Richtung, sie bewegt sich ungleichmäßig und folgt einer verschobenen Laufbahn. Schanelec zerlegt ein scheinbar komplettes Ganzes in Momente, die in ihrem Sich-Innewerden etwas bedeuten, eine Entscheidung herbeiführen, Beziehung stiften. »Music« spielt mit Mythen- und mit Notenmaterial: dem Schicksal des Ödipus. Eine Vivaldi-Arie betört mit Countertenor-Klang.Lange Einstellungen, streng komponiert, Stille und Schweigen, Meeresrauschen, die steinige griechische Erde. Die Natur spricht, was braucht es da menschliche Worte. Gesichter genügen – wie Augen blicken und was sie sehen. Oder Füße, die gehen; und Hände, wie sie sich bewegen, sich berühren. Einmal sehen wir von fern Jon am Strand: der Mensch ein Pünktchen in der Landschaft, wie der stürzende Ikarus am weiten Himmel. Aber hier ist es Iro, wissend geworden, die stürzt. Bestatter holen den Sarg ab. Jemand singt: »Plaisir d’amour, chagrin d’amour«. Ortswechsel: Jon lebt in Berlin. Potsdamer Platz – ein Unfall – auf der Straße liegt ein toter Mann – auch er mit Kopfwunde. Jon versteht.
23. April, 13.45 Uhr, Schauburg Dortmund
Kompliz*innenschaft
Die Sektion »Fokus« widmet sich starken Frauen aus 130 Jahren Kino.
Dem Begriff haftet etwas Konspiratives an: Kompliz*innen braucht es, wenn eine Person allein nicht stark genug ist und sich deshalb verbündet zur gemeinsamen Sache, nicht selten heimlich und gegen Widerstände. In der Sektion »Fokus« werden aktuellen Langfilmen jeweils ein Stummfilm vorangestellt. Zweimal tobt sich in diesen Prologen eine gewisse Rosalie aus – pausbäckig, augenrollend, clownesk lippenrot – und bereitet der guten Stube den Garaus. 1911 in Frankreich gedreht, regiert in »Rosalie emménage/A hasty renovation« die reine Anarchie. Die Frühzeit des Films hatte Spaß am Demolieren und an der totalen Demontage. Die Schalks-Matrone lässt nichts heil. Drei Etagen sind am Ende Bruch, Decken und Böden stürzen ein, Wasserrohre platzen, die bürgerliche Ordnung geht baden. Parallel zu Hollywoods Slapstick-Ära und noch zehn Jahre vor den Helden des Ungeschicks, Stan & Ollie, hat eine Frau den Dreh raus. In »Filibus« von 1915 ist eine Frau in drei Rollen zu sehen. Als jugendlicher Einbrecher mit Ballonmütze und Halbmaske, als mondäne Baronin Troimond, schmallippig und süffisant, und als Monokel tragender Elégant mit der Noblesse eines Marcel Proust. Valeria Creti ist eine Art weiblicher Fantômas, die in vornehmen Häusern auf Beutezug geht. Der Ermittler Hardy nimmt die Spur auf – und wird selbst zum Verdächtigen. Die Technik der attraktiven Kriminellen besteht darin, mit Hilfe eines von ihren Komplizen manövrierten Luftschiffes ihre Coups auszuführen. Sie wird an Bord in die Lüfte gehievt und nähert sich als Luftpirat von oben herab unbemerkt ihren Opfern. Filibus lässt Leonora, Hardys Schwester, entführen, um sie in Gestalt des beherzten Count de la Brive zu befreien und so Zugang zur feinen Gesellschaft zu erhalten und den nächsten Raub zu planen: die Juwelenaugen einer altägyptischen Katzen-Statue. Mehrmals zieht sich Filibus raffiniert aus der Affäre, stellt Fallen und lenkt von sich ab. Die Handlung der fünf Akte auf koloriertem Zelluloid arbeitet, als habe sie es von Jules Verne erlernt, mit fantastischem Spielzeug und technischem Zubehör, begibt sich an luxuriöse sizilianische Schauplätze und lässt den androgynen Charakter schillern. Dass hier ein feministischer, weiblich begehrender Blick regiert (obgleich der Regisseur ein Mann, Mario Roncoroni, ist), gibt dem Abenteuer Esprit. Auch auf erotischem Terrain ist Filibus ein Freibeuter bzw. eine Freibeuterin – und damit nicht dingfest zu machen.
Die Engagierte
Helke Sander räumt auf – nicht nur im Kino.
Ungewöhnlich: Helke Sander ist nicht nur Teil der diesjährigen Jury, auch eine Dokumentation über sie selbst feiert beim Festival seine Welturaufführung: In »Aufräumen« folgt Claudia Richarz der Filmemacherin durch ihren Alltag, erzählt aber auch in Rückblenden von denkwürdigen Momenten der von ihr mitgegründeten Frauenbewegung, Kinderläden und des 1. Internationalen Frauenfilmseminars 1973. Der Film startet in einem Bestattungsinstitut – ein kurioser Moment (der Bestatter: »Bis auf ihr Handy können Sie alles mitnehmen«), der zugleich zeigt, wie weitsichtig die inzwischen 86-Jährige als Feministin ihre Ziele verfolgte und nun auch ihr Ableben organisieren wird. Wir sehen sie, wie sie Filmmaterial und den eigenen Hausstand sortiert, dabei Einblick in ihre Familiengeschichte, aber auch in ihre Recherchen gibt. Und scheinbar nebenbei Fragen stellt: Nach bis heute tabuisierten Filmthemen wie über vergewaltigte Frauen im Zweiten Weltkrieg. Und die Frage, ob Frauen wirklich anders Filme machen. Damals, heute und fortan.
22. April, 20 Uhr, Roxy Dortmund
23. April, 14 Uhr, Gespräch mit Helke Sander, Sara Fazilat und Maria Furtwängler
über »Hürdenläuferinnen: 50 Jahre feministische Filmarbeit«, sweetSixteen
Dortmund
Jahrestage
Im Programm »Begehrt! Filmlust queer«: »Today« von Su Friederich
Über den Wolken fliegt die Kamera und erfasst die Insel im Strom: Schaut auf diese Stadt, New York City. Su Friedrich feiert in »Today« das Leben, wie es ist, und fordert auf, »try to pay attention to the moment«, um den Humor und die Schönheit in den Dingen – der Natur und den Menschen – zu erfassen. ‚Einstellungen’ meint im Deutschen zweierlei: ein fotografisches bzw. filmisches Bild und eine geistige oder emotionale Haltung, Gesinnung, Position zu jemandem oder etwas. In »Today« kommt beides zusammen. Jahrestage als Augenblicke in Bedford-Stuyvesant / Brooklyn und die Feier des Seins, die den Tod einschließt. Sommer in der Stadt, später auch ein Trip nach Griechenland; Blumen geschmückte Terrassen, geschlüpfte Vögelchen im Nest. Menschen vergnügen sich am Atlantikstrand. Es gibt Sport, Spiel und Musik: die 75-jährige Gladys Knight in concert, Klassik und Hip-Hop in der Subway, einen Reiterumzug und Marathonlauf, eine politische Anti-Trump-Demo, die Ehrung einer aufrechten Bürgerin – und den Beginn von Pandemie und Lockdown 2020. Menschen, die der Filmemacherin nahe sind, kämpfen mit dem Alter und sterben. Sie dokumentiert die Bestattung der Asche ihrer Mutter und ihren im Bett liegenden sterbenden Vater und trägt Robert Frosts Gedicht »Come in« vor. Es ist ein zart besaitetes Tagebuch, fixiert in einem anderen visuellen Medium, das Werden und Vergehen erfasst.
21. April, 16 Uhr, Schauburg Dortmund
Internationales Frauen Film Fest, 18. bis 23. April 2023, verschiedene Spielorte in
Dortmund sowie in Köln das Filmhaus und das Filmforum im Museum Ludwig