Er, sie. Wer liebt hier wen? Wenn es nach den ersten Seiten von »Koller« geht, dann liebt Kolja Chris irgendwie schon auf den ersten Blick. »Wir stehen in der Abendsonne herum. Ich weiß, dass du etwas sagen wirst, und bete, dass es mich überrascht und nicht langweilt.« So geht es los. Ziemlich lapidar eigentlich in einem Park in Leipzig. Aber langweilig wird es auf Annika Büsings Roadtrip in keinem Moment. Denn ihr neuer Roman »Koller« erzählt die rasante Geschichte zweier Menschen, die quer durch die Republik reisen, um ihren Platz zu finden. Miteinander. Füreinander. Im Leben.
Das Verblüffende: Es braucht ein paar Seiten, bis klar ist, dass sich hier zwei Männer ineinander verlieben. Chris ist eher zufällig nach Leipzig gekommen, um eine Frau zu heiraten, die er nicht liebt – und um ihr den Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Koller ist eigentlich mit Ella zusammen und hat mit ihr, wie er erst auf der Tour von Leipzig über Ludwigsburg, ins Ahrtal und ans Meer erfährt, ein Kind. Zunächst scheint es, als ließen sich der einsame, aber beherzte Ich-Erzähler und dieser chaotische Koller einfach so ans Meer und in eine neue Liebe treiben. Dann aber wird klar, dass ihre scheinbar planlose Reiseroute aus neuralgischen Punkten besteht. Die beiden fahren in einem klapprigen Polo an genau die Orte, die stellvertretend für Kollers größte Probleme stehen: In ein Heim, wo seine behinderte Schwester Birte lebt, die er lange vernachlässigt hat. Ins Ahrtal, wo seine kleine Tochter lebt, von der er nichts wusste, und wo die Flut gerade ganze Existenzen mit sich gerissen hat. Bis nach »Klütz«, in ein Kaff im Norden, wo seine eigenwillige Großmutter einst einen imposanten Teich mit Kois, das sind japanische Karpfen, pflegte.
Eine Portion Anarchie
Wie schon in ihrem Debütroman »Nordstadt« zeichnet Annika Büsing, die an einem Bochumer Gymnasium Deutsch und Religion unterrichtet, ihre Figuren in kurzen, präzisen Sätzen. Und wie schon in ihrer Liebesgeschichte zuvor, für die sie mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Mara-Cassens-Preis 2022 ausgezeichnet wurde, tragen der verstockte Ich-Erzähler Chris und der impulsive Koller einige Verletzungen mit sich, die nach und nach zutage treten. Chris hat sich das Essen abgewöhnt, Koller (nicht nur) den Anschluss zu seinem Medizinstudium verloren. Einen Koller zu haben bedeutet im schönsten Ruhrpottdeutsch, dass es einfach zu viel wird – an Gefühlen, an Problemen, an Gedanken. Annika Büsings Geschichte ist eine so wunderbare, weil sich mit jedem Tag, den diese beiden Männer miteinander verbringen, ihre Bindung enger knüpft. Weil sich hier zwei mit einer Portion Anarchie ans Meer vorarbeiten, zugleich aber auch anrührend und entwaffnend in die Lebensgeschichte des anderen eintauchen. »Koller« führt in Rückblenden zu Kindheitserinnerungen, Familien- und Liebesdramen. Also weit zurück. Damit es vorwärts geht: in ein selbstbestimmtes Leben.
Annika Büsing: Koller, Steidl Verlag, 176 Seiten, 20 Euro
Lesungen:
23. März, Stadtbibliothek Recklinghausen, nlgr.de
24. März, Quartiershalle der KoFabrik, Bochum, buchimbusch.buchhandlung.de
12. August, Literaturfestival »Nah und fern« (mit Singer/Songwriter Tommy Finke) Metropolengarten Am Dahlbusch, Gelsenkirchen, metropolengarten.de