So schwierig ist es nicht, sich mit der Wirtschaftswunderfrau, der kaltblütigen Maria Braun, zu identifizieren oder mit der Putzfrau Emmi aus »Angst essen Seele auf«. Auch nicht mit der nach preußischem Moralrecht dahinsterbenden Ehebrecherin Effi Briest, selbst nicht mit dem Totschläger Franz Biberkopf vom Berliner Alexanderplatz und nicht einmal mit dem erotischen Phantasie-Mann »Querelle« des Jean Genet in Fassbinders letztem Film.
Aber wo der brave Bürgersinn störrisch, ratlos und abwehrend reagiert, da erst beginnt der Ernstfall der Humanität: bei Elvira Weishaupt, dem Mann, der aus Liebe zur Frau wurde, seine Sehnsucht an ein Phantom band und alles aufgab, um zu erkennen: Es war umsonst. Der bzw. die befremdlich Andere ist in den Augen der Gesellschaft nur Spottgeburt oder ideales Opfer für Gewalt.
»In einem Jahr mit 13 Monden« von 1978 (im selben Jahr gedreht wie „Die Ehe der Maria Braun, somit vier Jahre vor seinem Tod) ist ein filmischer Sprengkörper: Fassbinders privatester, erschreckendster und verzweifelt schneidendster Film. Die Ballade, die von Brecht so viel weiß wie von J.S. Bach, wäre nicht möglich gewesen ohne Volker Spengler in der Rolle von Erwin / Elvira. Er spielt eines Menschen wahrste Wahrheit.
Ein kleiner, billiger, schmutziger Film, gedreht in einem hässlichen Frankfurt der Bahnhofsgegend, des Strichs und einer blutigen Fleischhauerei, eine einzige Radikal-Demontage und zugleich ein großer Klage- und Trauergesang. Elvira Weishaupts Passionsweg beginnt am nächtlichen Mainufer, währenddessen – wie im Widerspruch – Mahlers Adagietto aus der Fünften Sinfonie erklingt, das Visconti für seinen morbid elegischen »Tod in Venedig« verwendet hatte, und endet in einem Bett, während vom Schallplattenspieler Connie Francis »Schöner fremder Mann« singt.
Im Vorspann heißt es: »Jedes 7. Jahr ist ein Jahr des Mondes, in dem besonders viele Menschen an Depressionen leiden. Wenn aber ein Mondjahr gleichzeitig noch ein Jahr mit 13 Neumonden ist, wie 1978, kommt es zu persönlichen Tragödien.« Elvira schreitet Stationen ihres Lebens ab, trifft ihre frühere Ehefrau (Elisabeth Trissenaar) und Tochter (Eva Mattes), eine Nonne im Kloster, die das Heimkind gehegt hatte, die befreundete Hure Rote Zora (Ingrid Caven) und schließlich den Grundstücksspekulanten Anton (Gottfried John) – in einem der seelenlos glaskalten Hochhäuser von Mainhattan –, für den sie ihr Geschlecht geändert hat, und der nicht begreift, weshalb Erwin tun konnte, was er aus einer Laune heraus zu ihm gesagt hatte.
Eine Liebe, das kostet immer viel, wenn’s teuer kommt, das Leben. Fassbinders Filme – in ihrer Summe eine deutsche Chronik und Gefühlsgeschichte – handeln alle davon. Ebenso wie sein schnelles kurzes 37-jähriges Leben. Er widmete den saturnischen »Mond«-Film seinem Freund Armin Meier, der sich nach der Trennung umgebracht hatte.
Fassbinder, der für den Neuen Deutschen Film das Melodram wiederentdeckte und Schauspieler von Gestern und Heute im Licht ewiger Stars leuchten ließ, machte mit diesem Film gewissermaßen reinen Tisch. Was Sigmund Freud für die Theorie der Seelenerkundung ist, ist Fassbinder für deren Praxis in der Filmkunst. In dem RWF Elvira Weishaupt erfand, hat er sich selbst schuldig gesprochen – und Freispruch erhalten.