Begeistert läuft ein fünfjähriger Junge hinter einem riesigen Goldfisch her, der über den Boden schwimmt. Herbstlaub fällt von der Decke, bildet aber keine Haufen auf dem Boden. Und die geometrischen Figuren im Werk von Gustav Klimt machen einen ganz schwindelig. All dies in drei verschiedenen Ausstellungen in NRW und zu Musik zwischen Richard Wagner und Philip Glass. Solche Rundum-Ausstellungen sind so sehr ein Trend, dass Verwechslung droht, vor allem weil die immergleichen Künstler*innen präsentiert werden. »Immersion« bedeutet zunächst einmal »eintauchen«, in diesem Fall aber soll es ein ganzheitliches Erlebnis sein, bei dem die Kunstwerke emotional im Zusammenspiel von großflächiger Projektion, Animation und Musik wahrgenommen werden.
Wuppertal lässt uns eintauchen in Leben und Werk von Claude Monet. »Der Künstler hat eigentlich eine Instagram-Story gemacht«, sagt Christian Höher vom Visiodrom. Was er damit meint: Die Betrachter*innen können an den Gemälden ablesen, wann Monet wo gemalt hat. Dieser »Reiseerzählung« folgt die Ausstellung »Monet – Rebell und Genie« auf einer Projektionsfläche von über 6.500 Quadratmetern. 250 Monet-Gemälde werden mit 33 Beamern auf den Boden, die über 40 Meter hohen Wände und die Decke des ehemaligen Gasspeichers projiziert – und das ist auch schon ein Grund für die Auswahl eines Künstlers: Das Werk muss so umfangreich sein, dass sich daraus eine ausreichend lange Präsentation zusammenstellen lässt.
Die Geschichte von Monet wird seit Juni 2022 präsentiert. Dabei werden die Gemälde nicht nur hinter-, neben- oder übereinander gezeigt, sondern sie gehen ineinander über und sind auch animiert: Blätter fallen im gesamten Rund, Fischer auf einem Boot bewegen sich. Die Zuschauer*innen können sich dabei frei im Raum bewegen oder am Rand auf Stühlen und Sitzsäcken zusehen. Man soll dabei Details besonders gut erkennen können und auch Werkreihen gemeinsam sehen. So werden in Wuppertal etwa alle 33 Ansichten der Kathedrale von Rouen nebeneinander gezeigt. Selbst in den aufwendigsten Ausstellungen mit Monets Originalen hat man Glück, vier miteinander vergleichen zu können.
Eigentlich geht es bei der immersiven Ausstellung aber weniger um den reinen Kunstgenuss als um ein emotionales Erlebnis: »Infotainment« nennt Christian Höher den Mix aus Show im Obergeschoss und einer einführenden Ausstellung hinter dem Eingangsbereich des Visiodrom. Ein besonderer Fokus liegt hier auf den Seerosenbildern in der Pariser Orangerie. Dort, am Originalschauplatz, füllt Monets Malerei die Wände im Rund und vermittelt den Besucher*innen so das Gefühl, sich mitten im Seerosenteich zu befinden. Im Visiodrom wird das als Vorläufer der immersiven Ausstellung gesehen – und die Darstellung fortgeführt: Die Seerosen sind auf die Wände und auch auf den Boden projiziert. Sie umfassen die Besucher*innen und rufen so vielleicht das Gefühl hervor, das dem Maler einst bei seinem großen Spätwerk vorschwebte.
»Wir müssen den Willen des Künstlers berücksichtigen und rücksichtsvoll mit der Kunst umgehen«, so Christian Höher. Deshalb werden in der Schau keine Gemälde dekonstruiert. Nur manchmal wird anhand einer bekannten Vorzeichnung gezeigt, wie das Bild entstanden ist. So erfülle das immersive Erlebnis auch einen Bildungsauftrag, ganz besonders bei den jüngeren Besucher*innen. »Unsere Ausstellung ist auch ein Einstieg in die Kunst. Junge Leute sind oft ganz begeistert und sagen, dass es endlich mal eine zeitgemäße Darstellung ist – ins Museum wären sie aber nicht gegangen«, meint Höher.
Und doch gibt es Überschneidungen mit dem Besucher*innen-Kreis klassischer Museen. In der gerade zu Ende gegangenen Ausstellung »Eine neue Kunst – Fotografie und Impressionismus« hat das Wuppertaler Von der Heydt-Museum mit dem Visiodrom kooperiert und sogar ein Kombiticket angeboten. »Wir als Museum konnten die hochrangigen Originale bieten«, erklärt Museumsdirektor Roland Mönig, »und das Visiodrom ein Erlebnis auf der technischen Höhe der Zeit«. Auch für die Zukunft könne man sich Kooperationen vorstellen und sieht das immersive Erlebnis nur ein paar Schwebebahn-Haltestellen entfernt durchaus positiv: »Ich glaube, dass so eine immersive Ausstellung auch ein Türöffner sein kann. Letztlich wird so die Lust auf die Originale in den Museen geweckt.«
Auch Christian Höher ist überzeugt: »Wir nehmen niemandem etwas weg, es befriedigt unterschiedliche Bedürfnisse, den Wunsch nach einer Show und den nach dem Original.« Und die Show liefe gerade unglaublich gut – im Februar erwartet man den 75.000. Besucher. Deshalb sei auch noch nicht klar, ob man, wie derzeit angekündigt, schon im April auf ein neues Thema umstelle oder Monet verlängere.
Seit Mitte Januar vorerst beendet ist „Van Gogh – The immersive Experience“ in Mülheim an der Ruhr. Die Wanderausstellung wird aber wohl in den kommenden Jahren noch einmal nach NRW kommen. Auch hier gibt es eine einführende Ausstellung. Die eigentliche immersive Erfahrung beginnt dann hinter einem Vorhang: An die Wände und auf den Boden eines rechteckigen Raumes mit vielen Bänken werden über 500 Gemälde des Künstlers projiziert. Nah und riesig, neben Musik untermalen einige gesprochene Zitate die Show. Auch hier geht es vor allem um Gefühle: die schwindelnde Überwältigung, wenn die Sternennacht sich beginnt zu bewegen. Wenn Selbstporträts wie in Petersburger Hängung überall auftauchen oder Mandelblüten von der Decke rieseln.
Klimt und Hundertwasser im Stahlwerk
Seit Ende Januar gibt es in Dortmund ein dauerhaftes immersives Ausstellungshaus. »Culturespaces«, der Marktführer aus Frankreich, zeigt dort noch das ganze Jahr eine dreiteilige Show über Gustav Klimt, Friedensreich Hundertwasser und eine eigens geschaffene zeitgenössische Kreation des Studios Nohlab. Eingezogen ist das »Zentrum für digitale Kunst« in die historischen Hallen des ehemaligen Stahlwerks Phoenix-West. Das denkmalgeschützte Gebäude wurde aufwändig umgebaut, neue Architekturelemente erinnern an die ehemalige Nutzung, alle Einbauten sind entfernbar, sogar die Wandfarbe ist Kreidefarbe um den Originalzustand wieder herstellen zu können.
»Wir investieren hier auf Dauer«, sagt Renaud Derbin, der Standortleiter von »Culturespaces« für Dortmund, »so können wir viele Feinheiten in der technologischen Qualität verbessern.« Auf Technologie ist man sehr stolz im »Phoenix des Lumières« – über 100 Projektoren für 5.600 Quadratmeter Projektionsfläche und eine jahrelange Erfahrung beim Mapping, also der digitalen Darstellung und Aufbereitung der Kunstwerke. Und tatsächlich: Selbst das Gold in Klimts Werken wirkt unerwartet brillant. »Wir sehen uns als Ergänzung zum Original, das ist kein Ersetzungsprozess«, betont Derbin. »Es ist auch ein toller Weg, andere Menschen zur Kunst zu bringen.« Die Besucher*innen verteilten sich gut über alle Generationen, das zeigten die Erfahrungen aus anderen europäischen Standorten. Insbesondere mit dem dritten, aktuellen, zeitgenössischen Teil »Journey« zielt man aber auf ein junges Publikum ab.
Eines aber haben all diese immersiven Ausstellungen gemein. Die Zuschauer*innen bleiben letztlich doch immer genau das: Zuschauer*innen. Sie sehen einen überwältigenden Rundum-Film mit gewaltiger Musikbegleitung, im besten Fall werden sie emotional davon ergriffen. Mitmachen können sie aber nicht. Für Jens Krammenschneider-Hunscha vom storyLab kiU der Fachhochschule Dortmund ist aber das der entscheidende Punkt eines immersiven Erlebnisses: »Interaktion ist fester Bestandteil der Immersion.« Das storyLab kiU erforscht, wie sich zeitgemäße Technik im kulturellen Bereich einsetzen lässt, erprobt neue Wege der Dramaturgie und des Erzählens. Das zeigt sich im kleinen immersiven Raum im Erdgeschoss des Dortmunder U, der im praktisch orientierten Forschungsprojekt »Page 21« entstanden ist: Projektionsflächen auf drei Seiten gibt es hier, und man wird begrüßt von einer tiefen Stimme. Sie erklärt, wie man das Kulturerlebnis startet, und dass zur Navigation eine leichte Bewegung des Oberkörpers reicht.
»Eigentlich möchten wir auch diese Erklärung überflüssig machen«, berichtet Krammenschneider-Hunscha, »so dass der Raum an der Gestik merkt, was einen interessiert«. Das sei aber sehr kompliziert und noch Zukunftsmusik. Auch so ist der immersive Raum schon sehr futuristisch, er funktioniert wie eine Virtual-Reality-Experience, nur ohne Brille. Die Besucher*innen können aus den angebotenen Stories auswählen, das Bild und der Sound passen sich dann den Bewegungen und der eigenen Perspektive im Raum an. Auf kunsthistorische Erklärungen wird hier, zunächst noch, verzichtet. Man setzt nicht auf visuelle Überwältigung, sondern auf digitales Storytelling rund um jeweils einen oder zwei analoge Kunstgegenstände aus dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte und dem Museum am Ostwall.
»Wir möchten die Gegenstände in die Gegenwart holen, wollen sie neu entdecken«, erläutert Krammenschneider-Hunscha die Idee hinter dem »Page 21«-Projekt. Gemeinsam mit Kurator*innen aus den Museen wurden die kurzen Geschichten entwickelt, die wie eine freie Assoziation zu den Stücken wirken. »Sie sollen eine Einladung sein, sich eine Geschichte zu schaffen«, so Krammenschneider-Hunscha. Besonders Kinder und Jugendliche würden auf die Experience gut reagieren und sich viel eher darauf einlassen als geübte Museumsbesucher*innen.
»Unser klassisches Museumsangebot wird durch digitale Angebote ergänzt«, erklärt Stefan Heitkemper, Leiter des Dortmunder U. Dortmund nennt sich »Digitale Kulturstadt«. Zahlreiche Institutionen kümmerten sich hier um die Erforschung digitaler Aspekte im kulturellen Bereich. Dadurch könne man auch von den Erfahrungen anderer profitieren. Denn technisch sei der immersive Raum extrem aufwendig, entwickele sich permanent weiter.
Im »Page 21«-Projekt arbeiten Spezialisten, die an der FH Dortmund studiert haben, zumeist in den Bereichen Design oder Informatik. »Wir sind getrieben von der Frage, wie das Neue in die Welt kommt«, erläutert Krammenschneider-Hunscha die Motivation hinter dem Vorhaben. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Technik: »Es macht etwas mit der Denke, wenn man eine Geschichte nicht mehr linear, sondern immersiv erzählt.« Und Stefan Heitkemper ergänzt: »Wir als Museum sind eine Bildungseinrichtung. Da muss auch etwas Neues entstehen.« Er sieht das durchaus als Fortführung der klassischen Medienkunst. »Ich gehe schon davon aus, dass auch zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler darauf anspringen.« Und auch Jens Krammenschneider-Hunscha kann sich nach der innovativen Vorarbeit in Dortmund eine breite Nutzung vorstellen: »Eines Tages hat vielleicht jedes Museum oder jede Gedenkstätte einen immersiven Raum.«
»Monet – Rebell und Genie«, Wuppertal, Visiodrom, bis 16. April, bei Erfolg auch länger, visiodrom.de
»Gustav Klimt, Hundertwasser, Journey«, Dortmund, Phoenix des Lumières, bis 31. Dezember, phoenix-lumieres.com