Als 2018 in der Festival-Sektion Un certain regard von Cannes Lukas Dhonts Film ausgezeichnet wurde, stand an dieser Stelle, dass die sensible Studie »Girl« nur unzureichend als spezifisches Gender-Drama zu charakterisieren sei. Sie erzähle vielmehr von der Adoleszenz als von der Unschärfe in den Dingen. »Girl« ist die 15-jährige Lara (Victor Polster), die Ballerina werden möchte, schönes blondes Haar hat, und ein Gesicht, wie von Vermeer gemalt. Sie wurde aber, so empfindet sie, im Körper eines Jungen geboren. Es gibt in diesem bemerkenswerten Film nicht den einen Moment der Enthüllung, es ist vielmehr ein langsames Gleiten in eine von uns als Zuschauende ständig zu überprüfende Wahrnehmung. Gleiches lässt sich über Dhonts neuen Film »Close« sagen, der, ebenfalls in Cannes, den Grand Prix der Jury erhielt und für Belgien zur Oscar-Wahl ausgewählt worden ist.
In »Close« sind es zwei 13-Jährige: Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele). Freunde, die ihre kindliche Welt teilen, ihre Geheimnisse, ihre Offenheit, ihre Spiele, die rein aus der Fantasie erwachsen und etwa von einer unsichtbaren Ritterarmee handeln, vor der sie – gemeinsam – auf der Flucht sind. Es ist eine exklusive Freundschaft. Manchmal will es uns vorkommen, als würde die Grenze zwischen dem einen Ich und dem anderen nicht festgefügt sein, sondern sich verflüssigen. Sie bedürfen einander, geben sich gegenseitig Sicherheit und Halt, sind einander Spiegel der Seele. Der Raum ihrer Verbindung, die noch keinen Begriff braucht und keine Definition kennen muss, bedarf des Schutzes vor der Deutung der Erwachsenen und Gleichaltrigen.
Léo wächst in der Natur unter Blumenzüchtern auf, als wäre alle Zeit Sommer und sein Duft der Atem des Glücks. Für Rémi ist es die Musik – er spielt Oboe, die er mit seinem Herzensfreund teilt. Beider unbefangener Austausch bezieht die Eltern und Familien mit ein, wo die Jungen wechselweise auch gemeinsam übernachten und sich im Bett aneinander schmiegen.
Die Schule, das Kollektiv, die Gesellschaft hält Vorstellungen, Erwartungen und Einwände, Abwehrreaktionen bis zur Feinseligkeit bereit. Von Léo und Rémi wird Eindeutigkeit gefordert, die Ordnung und Einordnung ihres Fühlens abverlangt und Abgrenzung voneinander. Als wäre Normalität klar umrissen. Ist es Liebe, vielleicht Begehren, was Léo und Rémi eint? Es gibt den schlichten, klugen Satz in Agota Kristofs Roman »Das große Heft«, dass das Wort Liebe kein nützliches Wort sei: »Es ist nicht genau genug«.
Zuneigung unter Verdacht
Ihre ‚vorpubertäre’ (aber was sagt das schon, als würden das Emotionale, Psychische und Erotische nicht den natürlichen Dreiklang bilden, den auch ein Kind vernimmt und aussendet) Zuneigung und Zärtlichkeit füreinander steht unter Verdacht. Der Feinsinn des Besonderen ist den Groben und Gewöhnlichen nicht geheuer. Liebe ist immer auch außerirdisch und ausschließend für die, die in der Welt nach deren Regeln leben. Und da es keine Minnegrotte gibt, wie eine kleine Weile für Tristan und Isolde, zerbricht ihre Beziehung – mit dramatischen Folgen.
»Seid Ihr zusammen?« (»plus plus«)«, lautet die vielleicht harmlos gemeinte, aber dann doch zerstörerische Frage, als sie aufs Gymnasium kommen. Während Rémi davon unberührt zu sein scheint, markiert sie für Léo eine Zäsur – Differenz als Bedrohung. Er nimmt Abstand von Rémi, wendet sich anderen Mitschülern zu, tougheren, spielt in der Eishockeymannschaft mit. Für Rémi ist Leós Abkehr die tief greifende Erschütterung seiner ganzen Person und löst eine Ichkrise aus.
Zuvor war alles hell und leicht, Freude, Lust und Lachen, war Melodie und vollendete Bewegung, die die Anmut der beiden Jungen, vermittelt durch die Kamera (Frank van den Eeden) begleitet und ausführt. Ein Rausch avant la lettre, so inszeniert es der 31-jährige Dhont. Danach ist Zögern, Zweifel und lauerndes Misstrauen. Der Baum der Erkenntnis trägt bittere Frucht. Der Verlust und der Schmerz um das Verlorene bleiben. Gerade das Sensitive der Erzählweise – zusammen mit dem Zauber der Darsteller des Léo und Rémi – entfaltet die Radikalität des Erzählten und seine anklagende Trauer und schärft den Blick darauf, dass die kostbarste Möglichkeit der Selbstwerdung, ob als Frau oder Mann, als schwuler, heterosexueller oder transitorischer Mensch, in der Begegnung mit einem Gegenüber sich ereignet. »Close« legt uns auf die Seele, wie gefährdet wir sind als Individuum durch einen bösen Blick, ein unachtsames Wort, einen Verrat.
»Damals lebte sein Herz«, schreibt Thomas Mann in seiner Jahrhunderterzählung vom jungen Tonio Kröger in seinem Gefühl für Hans Hansen. Damals lebte ihr Herz – das von Léo und das von Rémi, indem es für den jeweils anderen schlug.
»Close«, Regie: Lukas Dhont, Belgien 2022, 105 Min., Start: 26. Januar