Fröhlicher Aufruhr in den Straßen von Paris am 10. Mai 1981. Die Nacht, da Frankreich die Wahl von François Mitterrand zum Präsidenten der Republik feiert, wogt in roten Fahnen. Zeit für den Wandel – und der Zukunft zugewandt.
Die »Passagiere der Nacht« unternehmen eine in ihren Bildern leicht verwischte Zeitreise – auch in unsere eigene Vergangenheit, wenn die gelebten Jahrzehnte sich auf mindestens fünf oder sechs runden. In den Kinos laufen die bittersüßen Romanzen und Beziehungsgeschichten von Eric Rohmer oder »Paris, Texas«, »Indiana Jones« und »Birdy«; Barbara singt oder Joe Dassin; Links und Rechts sind noch einigermaßen einfach zu sortieren; alles ist analog. Die Liebe freilich bleibt sich gleich in ihren Wechselzuständen, dem Sich-Verlieben und Sich-Verlieren, Hoffen und Bangen, Eiszeit oder Sommerblüte.
Wir begleiten Elisabeth Davies durch die Achtziger: einst Studentin der Psychologie, dann Sekretärin, Ehefrau und Mutter zweier nun halberwachsener Kinder, Judith (Megan Northam) und Mathias (Quito Rayon-Richter), der Ehemann verlässt sie für eine Jüngere, sie wohnen in einem Hochhaus des 15. Arrondissements über den Dächern von Paris. Sie findet eine Anstellung bei Radio france und nimmt in der Telefonzentrale die möglichen Kandidaten für eine Late Night-Sendung an, die Vanda Dorval (Emmanuelle Béart) moderiert und in der die Hörer zugeschaltet werden, um über sich zu erzählen. Später wird Elisabeth in Vertretung der abgeklärten Vanda, die sagt, dass es dafür die Fähigkeit brauche, die Wahrheit zu spüren, selbst am Mikrofon sitzen.
Ein Film mit zwei Köpfen
Charlotte Gainsbourg, deren Karriere u.a. mit den Filmen »Das freche Mädchen« und »Die kleine Diebin« in jenen Jahren begann, die der Film von Mikhaël Hers aufruft, spielt das mit, ohne es auch nur jemals auszuspielen: dieses Wissen um eine Zeit, das auch den Körpern eingeschrieben bleibt. Als Schauspielerin ist Gainsbourg ein Wärmespender, deren zarte Scheu die Temperatur immer auch ein wenig herunterkühlt.
Eine gewisse Tapferkeit zeichnet Elisabeth aus, die durch Kummer und Verzweiflung gegangen ist. Deshalb kann sie auch anderen helfen und für sie da sein, nicht nur für ihren Sohn, der den Mut zum Schriftsteller hat, und die Tochter, sondern auch für das Mädchen Talulah (die sehr besondere Noée Abita), die eigentlich Christine heißt, eine heimatlose, streunende Seele, die eine Weile mit den Dreien lebt und erfährt, dass Familie nicht nur ein Unort, sondern auch Schutzraum sein kann, und die dann fortgeht und den Schmerz des Erwachsenwerdens mitnimmt.
Mikhaël Hers hat etwas Kluges über seine »Passagiere der Nacht« gesagt: Es sei »ein Film mit zwei Köpfen, eine Education sentimentale in zwei Lebensabschnitten«. Mit diesen Lehrjahren – denen der Mutter und denen der Folgegeneration – zeigt er sich als ein Erbe von Claude Sauet und seiner einfachen Geschichten, die gleichwohl kompliziert sind.
Am Ende zieht Elisabeth aus der vertrauten Wohnung aus: ein Neuanfang, ohne die Kinder, die keine mehr sind und es doch für sie bleiben, und mit ihrem neuen Freund Hugo. Zum Abschied schenkt sie Mathias ihr Tagebuch aus den Tagen, als sie verlassen worden war; wir hören sie eine Eintragung vorlesen, die ein Gast ihrer Radiosendung formuliert hat:
»Es wird bleiben, was wir für andere waren. Bruchstücke, Fragmente von uns, die sie glaubten, gesehen zu haben, Träume von uns, die sie genährt haben. Und wir waren nie dieselben. Wir waren jedes Mal jene schönen Fremden, jene Passagiere der Nacht, die sie erfanden, wie empfindliche Schatten in alten, vergessenen Schlafzimmerspiegeln.«
»Passagiere der Nacht«, Regie: Mikhaël Hers, Frankreich 2022, 111 Min., Start: 5. Januar