Geisterhafte Gestalten laufen per Videoprojektion über die Bühne. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht das Publikum, dass sie blutbefleckte Schürzen tragen. Die Geschichte der Oper beginnt in einem Schlachthof. Es ist eins der wichtigsten Musiktheaterstücke nach dem Zweiten Weltkrieg, vor 50 Jahren fand die Uraufführung statt – unter dem Titel »Intolleranza 1960«. Der Titel verweist auf die Entstehungszeit, der Inhalt spiegelt den revolutionären Geist der Epoche. In Wuppertal heißt Luigi Nonos Stück nun »Intolleranza 2022«.
Aus Lautsprechern tönt der Anfangschor. Er ist vorher aufgenommen worden, mit dem Spezialisten-Ensemble Chorwerk Ruhr. Das Orchester setzt erst später ein. Es spielt in vier Gruppen mit Streichern und Harfen im Graben, Bläser und Schlagwerk sind hinter der Bühne verteilt. Der Wuppertaler Opernchor singt mal auf der Bühne, mal im Rang, mal taucht er links und rechts vom Publikum im Parkett auf. Der musikalische Leiter Johannes Harneit, ein Experte für neue Musik, verwandelt das Wuppertaler Opernhaus in einen faszinierenden Klangraum, die Aufführung ist auch eine live gespielte Soundinstallation.
Doch so ausgefuchst und komplex Luigi Nonos Musik auch ist – sie soll vor allem eine Botschaft transportieren. Der Komponist war Kommunist aus tiefer Überzeugung. Sein Stück sollte die proletarischen Massen erreichen, ihre politische Bewusstwerdung anfeuern, zur Revolution aufrufen. Und nicht das bildungsbürgerliche Opernpublikum erfreuen. Wie es – glaubt man dem langen und begeisterten Schlussapplaus – in Wuppertal gelungen ist. Pathetisch beschwört Luigi Nono das Leiden der Unterdrückten. Das wirkt – zusammen mit dem Glauben an die proletarische Revolution – schon ein bisschen angestaubt.
Folter und Flutkatastrophe
Dennoch ist »Intolleranza« in den vergangenen Jahren wieder öfter gespielt worden – bei den Salzburger Festspielen und an der Komischen Oper in Berlin, dort verbunden mit einem Essay der Publizistin Carolin Emcke. In Wuppertal setzen Regisseur Dietrich Hilsdorf und Bühnenbildner Dieter Richter auf Bilder, die heutige Assoziationen ermöglichen, ohne zu konkret zu werden. Der Arbeiter aus dem Schlachthof – der Emigrant, wie er im Stück heißt – verlässt seinen Job und seine Partnerin, geht hinaus in die Welt, erlebt Demonstrationen und Folter. Schließlich scheint die Welt in einer Sintflut unterzugehen. Wuppertal wurde im vergangenen Jahr von der Flutkatastrophe hart getroffen.
Markus Sung-Keun Park singt den Emigranten mit gewaltigem Stimmvolumen, einer der aufschreit gegen das kapitalistische System, der die Unterdrückung nicht mehr hinnimmt und sich wehrt. Das Ensemble begeistert mit Kraft und Hingabe, Andrey Berezin aus dem Wuppertaler Tanztheater zeigt einen sich windenden, gequälten Körper, ein überzeugendes Sinnbild des geknechteten Menschen. 80 Minuten lang präsentiert die Oper Wuppertal schrille Töne und apokalyptische Bilder, das konzentrierte Grauen des Seins. Das ist eine Zumutung und soll es auch sein. Am Ende leiht sich Luigi Nono Worte von Bertolt Brecht. Das Gedicht »An die Nachgeborenen« endet mit den Worten: »Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unsrer mit Nachsicht.« Es ist eine Frau, die diese Sätze schreibt, allein auf der Bühne, während draußen das Wasser weiter steigt. Ein Moment der Hoffnung? Vielleicht. Auf jeden Fall eine Aufforderung zum Weitermachen, so sinnlos es einem auch erscheinen mag.
16. Dezember, Oper Wuppertal, oper-wuppertal.de