Im Jahr 1919 kam Marcel Duchamp auf die Idee, einen Hauch von Paris zu verschenken: Er brachte seinem New Yorker Sammler als Souvenir eine Glasampulle mit, gefüllt mit 50 Kubikzentimetern »Air de Paris«. Das Readymade ist seitdem regelmäßig in Ausstellungen zu sehen, zuletzt im Frankfurter MMK. Er war vielleicht das erste Mal, dass Luft zum Hauptbestandteil eines Kunstobjekts wurde. Sie befindet sich allerdings verschlossen im Glasgefäß – das Versprechen, in die französische Metropole versetzt zu werden, bleibt uneingelöst. Duchamp spielte damals mit einer Idee von Paris und mit dem allzu menschlichen Wunsch, Flüchtiges konservieren zu wollen: einen schönen Urlaub, eine Erinnerung, das Lebensgefühl in einer Metropole. Damit war er einer der Vorläufer der Konzeptkunst.
Seitdem integrieren Künstler*innen zunehmend Immaterielles, auch Gerüche in ihre Arbeiten, und Kuratoren bringen das Olfaktorische in einen Dialog mit materieller Kunst wie Gemälden oder Skulpturen. Selten jedoch war eine Ausstellung so radikal und konsequent wie »Odor«: Im Museum für Gegenwartskunst Siegen haben Museumsleiter und Kurator Thomas Thiel Arbeiten versammelt, bei denen der Geruch nicht nur sinnliche Zugabe ist, um das Kunsterlebnis zu intensivieren. Der Geruch ist das Kunsterlebnis selbst. Dabei besteht das Werk freilich nicht aus Molekülen und chemischen Verbindungen. Jede Arbeit, jeder Geruch entführt in eine neue Welt – mal humorvoll, mal sehr persönlich, mal grauenerregend schrecklich. Film ab fürs Kopfkino!
Auf dem Parkett verstreutes, mit etwas Erde vermischtes Heu ist das einzige, das es in den ersten beiden Räumen zu sehen gibt. Das übrig gebliebene getrocknete Gras ist nur der sichtbare Rest einer Geschichte, die längst vorbei ist, aber olfaktorisch deutlich nachwirkt: Der US-amerikanische Künstler Jason Dodge hat mehrere Tiere in die Museumsräume geführt und sie dort einige Stunden lang futtern, herumlaufen, wohl auch ausscheiden lassen. Welche Tiere genau und wie viele, was in den Räumen geschah, wie sie ins Obergeschoss und wieder hinaus gelangten – man erfährt es nirgends. Die Arbeit »The living« verweist auf den Gegensatz von Natur und Kunst, Leben und der Darstellung von Leben, und verführt dazu, die angedeutete Geschichte im Kopf zu vollenden.
Ein Hauch von Lavendel
Kaum hat man den letzten Heuhaufen hinter sich gelassen, vermischt sich der würzige Landgeruch mit einem süßlich-sanften Duft. Ein Hauch von Lavendel wabert durch den Raum des italienischen Künstlers Luca Vitone. Es ist ein angenehmer, wenn auch künstlich erscheinender Geruch, der in Sicherheit wiegt – dabei erzählt »A tale of forked tongues« eine entsetzliche Geschichte: Im 18. Jahrhundert tötete die britische Armee amerikanische Ureinwohner, indem sie mit Pockenviren verseuchte Decken ausgab. Die vermeintliche Hilfsgabe entpuppte sich als tödliche Waffe. Luca Vitone übersetzte dieses Verbrechen mit Hilfe einer Parfümeurin in einen Duft, dessen Gefährlichkeit gerade in seiner perfiden Harmlosigkeit liegt.
Dabei werden Gerüche durchaus auch bewusst als Instrument zur Verhaltenssteuerung genutzt, etwa zur Kontrolle von Menschenmassen. Darauf spielt »Territory Denial« von Clara Ursitti an. Wer den Raum mit ihrer Arbeit betritt, läuft wie gegen eine unsichtbare Wand: Der Gestank vertreibt den Besucher schnell wieder aus dem leeren, weißen Raum, der von einem in einem kleinen Loch hinter einer Wand angebrachten Diffusor benebelt wird.
Manche Gerüche versetzen unmittelbar zurück in vergangene Zeiten oder holen verschüttet geglaubte Erinnerungen ans Licht. So dürfte es vielen mit »Pullover‘ Wardrobe« der südkoreanischen Künstlerin Koo Jeong A gehen: In ihrem Raum wähnt man sich mitten in einem Kleiderschrank – oder eben an dem Ort, den man ganz persönlich mit diesem spezifischen Mottenkugel-Duft verbindet. Noch persönlicher ist die Arbeit von Carsten Höller: In »Smell of My Mother« / »Smell of My Father« kann man dem Geruch der Eltern des Künstlers nachspüren, den er versuchte, mit Hilfe von Kleidungsstücken künstlich zu erzeugen. Auf einer schwarzen Bank im weiß gestrichenen Raum sitzend ertappt man sich dabei, weniger dem Duft der fremden Eltern nachzuspüren als vielmehr über die eigenen vertrauten Gerüche nachzudenken: Wie roch sie eigentlich, die eigene Kindheit?
Bei Pamela Rosenkranz bekommt man immerhin eine Ahnung davon, wie die Postapokalypse riechen könnte. Die schweizerisch-deutsche Künstlerin hatte 2015 den schweizerischen Pavillon der Biennale in Venedig mit einer immersiven Arbeit gestaltet. Mit »House of Meme (Smell of Fire)« hat sie nun ihr im vergangenen Jahr für das Kunsthaus Bregenz entstandenes »House of Memes« um die Geruchskomponente erweitert. In einem White Cube, der an drei Wänden mit tropfenförmigen, circa zwei Meter hohen blauen LED-Screens bestückt ist, riecht es verdächtig nach Feuer, nach kokelndem Holz – oder auch nach der Ruine eines bereits abgebrannten Hauses. Es ist ein Geruch, der in Alarm versetzt – genauso riecht Gefahr. Doch die Sinneseindrücke wollen so gar nicht zueinander passen – die cyanblauen Lichtquellen im clean-weißen Raum erzählen den Augen eine andere Geschichte, als die Nase wahrnimmt. Statt einer Text-Bild-Schere erlebt der Besucher hier eine Bild-Geruch-Schere.
Letztlich wirkt aber dann doch jene Arbeit am stärksten, die den Geruch mit einem Artefakt, einem sichtbaren Objekt verbindet. Die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles hat ein mehrfach gefaltetes, verschmutztes Leinentuch auf einen quadratischen Tisch gelegt, das von vier Scheinwerfern angestrahlt wird. Der Geruch, den das Tuch verströmt, ist unvertraut, unangenehm – und, sobald man die Geschichte dahinter erfährt, sogar unerträglich: Es handelt sich um ein Leichentuch, mit dem die Opfer der Gewalt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze bedeckt wurden. Die Flecken auf dem Tuch stammen von den Körperflüssigkeiten der Leichen. Die Künstlerin hat das Tuch 2003 luftdicht konserviert, so dass es heute, fast 20 Jahre später, noch immer den authentischen Geruch von Grausamkeit und Tod verströmt. Die Kombination von Objekt, Geruch und dem Wissen um die Geschichte dahinter ist hart an der Grenze des Erträglichen.
Die norwegische Künstlerin Sissel Tolaas, eine Pionierin der olfaktorischen Kunst und Hüterin eines einzigartigen Duftarchivs, führt in ihrer Arbeit alle neun olfaktorischen Positionen der Ausstellung zusammen. »Synergorytm SIE_GEN_22« ist eine raumfüllende Installation aus silbernen Röhren, die scheinbar die Luft aus jedem einzelnen der Odor-Räume in eine krakenhafte Installation aus Röhren überführt. Im Inneren der phantastischen Maschine mixt ein Ventilator die Düfte durcheinander, und eine letzte Röhre führt die olfaktorische Collage, die Kakophonie der Gerüche über das Fenster nach draußen, in den Stadtraum, auf die Straße »Unteres Schloss«. Wenn man dann aus dem Museum tritt, die Nase voll von Geschichten und Gerüchen, nimmt man einen letzten molekularen Abschiedsgruß mit, ein »Air de Siegen«, der sich schon bald mit dem Duft gebrannter Mandeln vom nahegelegenen Weihnachtsmarkt vermischt.
»Odor. Immaterielle Skulpturen«
bis 26. Februar 2023
Museum für Gegenwartskunst MGK Siegen
Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm, darunter ein Gespräch mit dem Leiter eines Dunkelcafés (1. Dezember), ein Workshop mit dem Smell Lab Berlin (11. Februar) oder einem Internationalen Symposium (28. und 29. Januar 2023) mit Referent*innen aus Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft, die auf Düfte in Kunst und Gesellschaft blicken.