Das Literatürk-Festival war seit 2005 eine feste Größe im literarischen Ruhrgebiet und eine Institution für die literarische Vermittlung einer pluralen und diversen Gesellschaft. Am 7. November startet das Festival in Essen unter neuer Flagge und heißt nun »Literaturdistrikt«. Was wird sich ändern? Ein Gespräch mit den Kuratorinnen Fatma Uzun und Semra Uzun-Önder.
kultur.west: Warum heißt Literaturtürk jetzt Literaturdistrikt?
UZUN: Über die Jahre hat sich Literatürk konzeptionell und inhaltlich weiterentwickelt. Während in den Anfangsjahren das Programm aus Literatur mit Türkei-Bezug bestand, haben wir in den Folgejahren das Programm immer weiter geöffnet. Einerseits durch die Einführung eines jährlich wechselnden Mottos und darüber hinaus über die Einbeziehung von Autor*innen ganz unterschiedlicher Herkunft.
kultur.west: Warum haben sich sich vom Türkei-Bezug etwas gelöst?
UZUN-ÖNDER: Mit den Jahren hat sich das gesamtgesellschaftliche Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft verfestigt. Zugleich wurde deutlich, dass Autor*innen mit einem sogenannten Migrationshintergrund – abgesehen davon, dass sie gute Literatur produzieren – vieles gemeinsam haben, zum Beispiel die mangelhafte Repräsentation oder bestimmte Stereotypen und Klischees, die ihre Arbeit begleiten.
kultur.west: Was soll der neue Name bewirken?
UZUN: Die Öffnung des Programms kollidierte mit dem alten Namen, weil er eine Engführung mit sich brachte. Um Inhalt und Form wieder näher zusammenzubringen, haben wir uns für eine Namensänderung entschieden. Geblieben ist die Vorstellung, Räume zu schaffen, in denen Literatur die zentrale Rolle spielt. Der neue Name soll deutlich machen, dass wir den Wandel zu einer pluralen und diversen Einwanderungsgesellschaft fördern und mitgestalten wollen. Dabei ist Literaturdistrikt nicht ausschließlich ein physischer Ort, sondern vor allem auch ein ideeller, an dem Literatur und Vielstimmigkeit die Hauptrollen spielen.
kultur.west: Was steckt hinter dem Motto «Zeitenwende«?
UZUN-ÖNDER: Zunächst einmal ist es ein Begriff, der dieses Jahr in besonderem Maße geprägt hat und immer noch prägt. Politisch, ökonomisch, ökologisch, kulturell und nicht zuletzt medial ist er in vieler Munde. Einerseits wird er mit immer neuen Bedeutungen aufgeladen und andererseits oder vielleicht gerade deswegen ist er zum Ausdruck der Gefühlslage geworden. Wir leben in vielerlei Hinsicht in bewegten Zeiten, in denen sich alte Gewissheiten auflösen und etwas Neues entsteht. Mal in unbestimmter Gestalt und mal in Form von neuen Imperativen.
UZUN: Von Aufbrüchen, Umbrüchen und Wendepunkten im Großen wie im Kleinen handeln auch die Veranstaltungen im diesjährigen Programm.
Nicht zuletzt ist der Begriff Zeitenwende auch ein wenig selbstreferenziell, da auch wir uns in diesem Jahr mit dem Festival und unserem neu gegründeten Trägerverein im Aufbruch befinden, den es zu gestalten gilt.
kultur.west: Was gibt es beim Literaturdistrikt zu sehen?
UZUN: Das Programm besteht aus zwölf Veranstaltungen an zwölf Festivaltagen. Dazu gehören elf Lesungen mit Gespräch und eine multimediale Performance an sieben Spielstätten in Essen. Zu Gast sind unter anderem Fatma Aydemir mit ihrem Roman Ellbogen, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht und Sasha Marianna Salzmann mit dem Roman »Im Menschen muss alles herrlich sein«, der kürzlich mit dem Hermann-Hesse-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Außerdem stellt Khuê Phạm ihren Roman »Wo auch immer seid« vor. Darin erzählt sie eine transnationale Familiengeschichte und vermittelt die weitestgehend unerzählte Perspektive auf den Vietnam-Krieg und dessen Auswirkungen aus vietnamesischer Sicht.
UZUN-ÖNDER: Der Autor und internationale Pen-Präsident Burhan Sönmez beschäftigt sich in seinem Roman »Labyrinth« mit der Frage, ob Erinnerung überhaupt wichtig ist oder ob man sich für einen Neuanfang womöglich von ihr befreien sollte. Niklas Maak wiederum setzt sich in seinem Buch »Servermanifest: Architektur der Aufklärung: Data Center als Politikmaschinen« mit unserem digitalen Gedächtnis in Form von Serverfarmen auseinander. Dabei stellt er die Frage, wie wir die Hoheit über unsere Daten wiederlangen können. Weitere Gäste sind Sibylle Berg, Dietmar Dath, Senthuran Varatharajah, Marina Weisband oder Wolfgang M. Schmitt. Ergänzt wird das Festival durch ein ausgedehntes Begleitprogramm mit Angeboten für Kinder- und Jugendliche, zwei Buchpremieren und einem Konzert mit Lesung.
kultur.west: Wo findet man den Literaturdistrikt?
UZUN-ÖNDER: An ganz unterschiedlichen Orten in Essen. Darunter in der Zentralbibliothek, im Café Central im Grillo-Theater, im Museum Folkwang, in der Casa des Schauspiel Essen, im LeseRaum und in der Rü-Bühne.
Fatma Uzun und Semra Uzun-Önder sind nicht nur Schwestern, seit 2005 organisieren sie gemeinsam mit Johannes Brackmann das Festival »Literatürk«, das 2022 als Literaturdistrikt neu startet. Fatma Uzun studierte Philosophie und Geschichte und trat 2008 der Festivalleitung bei. Sie arbeitet als freie Projektmanagerin, Autorin und Redakteurin. Semra Uzun-Önder ist Autorin und kuratiert nicht nur literarische Veranstaltungen, sondern arbeitet auch als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche.
7. bis 18. November an verschiedenen Orten in Essen
Tickets und mehr Infos unter literaturdistrikt.de