Als im vergangenen Jahr der 100. Geburtstag von Joseph Beuys begangen wurde, feierte man den Künstler mit einem Marathon von Ausstellungen und Veranstaltungen. In diesem Jahr steht der 100. Geburtstag seines Weg- und Ateliergefährten Erwin Heerich im Kalender der Jubiläen. Doch anders als bei Beuys hält sich die Würdigung beim nüchtern-analytischen Heerich (1922–2004) sehr in Grenzen. Obwohl er einen originären Beitrag zur konkret-minimalistischen Kunst leistete, zweimal an der documenta teilnahm und bald 20 Jahre an der Kunstakademie Düsseldorf lehrte. Doch was die Akademie-Galerie angeht, ist offenbar keine eigene Präsentation zum 100. eingeplant. Immerhin: Die Stiftung Insel Hombroich, wo der Nachlass des Bildhauers aufbewahrt wird, präsentiert bis zum 30. Oktober die Ausstellung »Heerich 100. Die begehbare Skulptur«.
Und auch das Museum Schloss Moyland widmet Erwin Heerich eine Hommage. Rund 110 seiner Plastiken, Zeichnungen und grafischen Serien sind in Bedburg-Hau zu sehen. Besonders bemerkenswert: die rund 25 Kartonplastiken aus den 1950er und 1960er Jahren. Verwendete der Künstler das Verpackungsmaterial anfangs vor allem, weil es billig war, so erwiesen sich die biegbaren Pappschachteln, die einen Hohlraum bilden, als idealer Werkstoff für sein flexibles Kunstwollen: »Dieses Material«, so Heerich, »ist eine dünne Haut, die die Form prägt, also keine Masse, kein Kern, sondern ein Prozess der Abwicklung von der Fläche in den Raum.« Nicht zuletzt entsprachen die knautschbaren Objekte, deren Haltbarkeit mit Marmor, Stein und Eisen nicht konkurrieren kann, seiner Überzeugung, dass es in der Kunst in erster Linie auf das Konzept ankommt: »Die Dauer meines Vorhabens liegt nicht im Bereich des Gemachten, sondern des Gedachten.«
Weniger geläufig als die Kartonplastiken, aber nicht minder sehenswert sind die hölzernen Puppen sowie textile Arbeiten, die der Künstler gemeinsam mit seiner Frau, Hildegard Heerich, anfertigte.
Die Ausstellung ist ein wahres Heimspiel: Die Brüder Hans und Franz Joseph van der Grinten, deren Sammlung den Grundstock des Museums bildet, waren mit Heerich befreundet, richteten ihm 1964 die erste Solopräsentation aus und erwarben schon früh Werke von ihm – rund 130 Arbeiten gehören heute zum Bestand des Museums. Alexander Grönert, der Kurator, hat mit diesem Fundus sowie mit zahlreichen Leihgaben (von der Stiftung Insel Hombroich, dem Duisburger Wilhelm Lehmbruck Museum, dem Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré Sammlung und aus dem Besitz der Familie) eine großartige Ausstellung arrangiert. Der Rundgang und die Lektüre des fundierten Katalogs öffnen die Augen für den Einfallsreichtum, mit dem Erwin Heerich einen begrenzten Formenkanon abwandelte. Geometrische Formen und mathematische Formeln, Maß, Modularität und Raster – diese Prinzipien empfand Heerich, ein Mann voller Pläne, einer, der Sinn für Spielerisches hatte, nicht als Einengung, sondern als Ausgangsbasis für künstlerische Höhenflüge. Wer eine Veranschaulichung der Losung »Simplicity is the ultimate sophistication« sucht, dem sei die Ausstellung im Museum Schloss Moyland ans Herz gelegt.
Beim Rundgang trifft man beispielsweise auf eine aus vier Modulen zusammengefügte Kartonplastik, die an eine Säule erinnert. Deren Basis bildet ein Würfel. Darauf sitzt ein zum Achteck gefalteter Kartonkubus, gefolgt von einem Körper, den 16 Flächen begrenzen, bekrönt von einem nahezu kreisförmigen Zweiunddreißigeck. 4, 8, 16, 32 – von solchen regelmäßigen Zahlenreihen, arithmetische Progressionen genannt, ist Erwin Heerichs Kunst durchdrungen. Er steht damit in der Tradition der Architektur: Ein Bauwerk über Zahlenverhältnisse zu proportionieren, ist die einfachste und früheste Form, um einen Maßstab festzulegen. Schon der Salomonische Tempel folgte diesem Rezept. Ihm verdanken die klassischen Säulenordnungen ihre ausgewogenen Proportionen. Auch Heerich überließ bei seiner Kunst nichts dem Zufall. Mit Ziehfeder und Lineal konstruierte er regelmäßige Bilder und Plastiken, ohne in Regeln zu erstarren. Dafür sorgen minimale, sorgsam kalkulierte Abweichungen vom Plan.
Winckelmanns Devise »Edle Einfalt und stille Größe« hat Heerich in konkrete Kunst übersetzt. Das macht den Besucher*innen (und Kurator*innen) die Annäherung nicht immer einfach. Werktitel und Datierungen beispielsweise lehnte der Asket als unnötige verbale Zutat ab. Dass ein Schildchen mit der Aufschrift »unbetitelt/undatiert« ebenfalls eine Aussage macht, sah er nicht oder wollte er nicht sehen. Konzessionen gegenüber dem Wunsch des Publikums nach bequemer Zugänglichkeit waren Heerichs Sache ohnehin nicht. Insofern entspricht er der landläufigen Vorstellung vom modernen Künstler, für den Autonomie das höchste Gut ist.
Nicht unbedingt selbstverständlich, wenn man seinen Lebensweg rekapituliert. Vor dem Zweiten Weltkrieg machte er nämlich eine Ausbildung in einer Töpferei in Hannoversch Münden. Also ein eher handwerklich-pragmatischer Einstieg in die Kunst. Weitere Fundamente wurden von 1945 bis 1950 durch das Studium an der Kunstakademie Düsseldorf gelegt. In der Bildhauerklasse von Ewald Mataré traf er auf Beuys, mit dem er von 1950 bis 1954 ein Meisterschüleratelier teilte. In den darauffolgenden Jahren fuhr er zweigleisig, arbeitete als Künstler und als Lehrer (am Seminar für werktätige Erziehung in Düsseldorf).
Sein Entdecker, der Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela, ‚verkaufte‘ ihn als aufstrebenden Vertreter der Minimal Art; eine Einordnung, die Heerich stets ablehnte. Schmela präsentierte seine Arbeiten seit 1966 mehrfach in Ausstellungen und vermittelte ihm 1968 gar eine Soloschau in der New Yorker Dwan Gallery, die sich auf minimalistische Tendenzen spezialisiert hatte. Im US-Umfeld fühlte sich Heerich jedoch nicht heimisch, wie er 1972 in einem Gespräch mit Wulf Herzogenrath erklärte: »Während bei der Minimal Art das Gliedern der maßlichen Verhältnisse kaum eine Rolle spielt, ist diese Beziehung der Maße, der Verhältnisse, der Zahl, ein wesentliches Kriterium meines Tuns. Meine plastischen Objekte ruhen in sich selbst. Ihre Anteilnahme an einem räumlichen Ambiente ist erst gar nicht gesucht.« Wer nach einer plausiblen Genealogie von Erwin Heerichs Kunst sucht, halte sich an Kubismus, Konstruktivismus und Bauhaus – vor allem die beiden Bauhaus-Lehrer Paul Klee und Oskar Schlemmer haben ihn beeinflusst.
Kunst und Architektur zusammengedacht
Die Teilnahme an der documenta 4 im Jahr 1968 sowie die Berufung an die Kunstakademie Düsseldorf 1969 (dort lehrte er bis 1988) brachten ihn endgültig in die erste Reihe der deutschen Gegenwartskunst. Weil Heerich Kunst und Architektur zusammendachte, war der öffentliche Raum sein eigentliches Element. Speziell in NRW sind seine Skulpturen und Reliefs auf vielen Plätzen oder in Parks zu finden, etwa in Bochum, Düsseldorf, Köln, Krefeld, Solingen, Viersen und Wuppertal. Krönung seiner ortsspezifischen Arbeit: die »Museum Insel Hombroich« (so der Eigenname) im Neusser Stadtteil Holzheim. 1982 hatte der Düsseldorfer Kunstsammler Karl-Heinrich Müller das verwilderte Areal an der Erft erworben, um dort seine Vision einer »Kunst parallel zur Natur« zu verwirklichen. Eine Vision, die Heerich teilte. Auf Müllers Einladung entwarf er für die Insel Pavillons und begehbare skulpturale Architekturen, in denen die geometrischen Gestaltprinzipien seiner Kartonplastiken eine monumentale Ausprägung erfuhren. Auf Hombroich hatte der in Meerbusch lebende Künstler auch sein Atelier.
Der »Turm«, der »Tadeusz-Pavillon« oder die »Schnecke« führen die in den Kartonplastiken grundgelegte modulare Bauweise in 40-facher Vergrößerung vor Augen. Dass sich seine Werke stets aus einem Grundmaß entwickeln, veranschaulicht die Ausstellung in Schloss Moyland ebenso anhand etlicher Beispiele wie das Charakteristikum, dass Heerich in Serien dachte und arbeitete. In seinem sparsam bestückten Kosmos gehört alles zusammen, nimmt alles aufeinander Bezug. Keine Überraschung deshalb, dass die Plastiken aus Karton, Holz, Gips und Messing oftmals von Zeichnungen flankiert werden; in ihnen nimmt die »prima idea« Gestalt an. Manchmal aber ist es auch umgekehrt: Dann dient die Plastik als Keimzelle für spätere zeichnerische Variationen, in denen der Künstler die verflächigte Form aus verschiedenen Blickwinkeln darstellt oder sie einer Metamorphose unterwirft.
Als ihn der Kunstring Folkwang in Essen 1972 einlud, eine Jahresgabe für den Verein beizusteuern, reagierte Heerich gleich dreifach: »Die Aufgabe brachte mich auf die Idee, nicht nur ein graphisches Blatt zu erstellen, sondern darüber hinaus ein Angebot zu machen, wo von einer Stempelform (Klischeeobjekt) sowohl eine Auswertung zum Graphischen hin (Zinkographie) als auch zum Plastischen (Prägedruck) möglich ist. In der Zusammenstellung dieser drei Dinge glaube ich, einen Hinweis auf einen besonders wichtigen Akzent meiner Arbeit zu geben.« Zweifellos. Solchen Nuancen nachzuspüren, kann den Charakter einer Entdeckungsreise annehmen. Die gelingt aber nur, wenn man sich in Heerichs Kunst vertieft. Wer es bei einem flüchtigen Blick belässt, dem bleibt der Charme dieser spröden Welt verschlossen.
»Erwin Heerich – Plastiken, Zeichnungen, grafische Serien«, Museum Schloss Moyland, Bedburg-Hau, bis 16. Oktober.
»Heerich 100. Die begehbare Skulptur«, Museum Insel Hombroich, Kirkeby-Feld, Raketenstatrion, bis 30. Oktober.