Erich Kretzschmar strahlt in die Kamera und schwärmt von der Dortmunder Vogelwelt, mit der er sich seit 50 Jahren beschäftigt. Zwei Pflegekräfte berichten vom Klinikalltag in der Unfallchirurgie, wünschen sich mehr Engagement seitens der Politik. Ein Geschwisterpaar lädt ein zum Kuchenbacken und spricht darüber, was Familie jenseits der gewohnten Verhältnisse bedeuten kann. Solche zehnminütigen Videos sind auf der Webseite des Favoriten Festivals sichtbar, im Glossar des (Ver-)Lernens, das stetig wachsen soll.
»(Un)Learning for possible futures« steht als Motto über der Ausgabe. »There’s no return to normal because normal was the problem in the first place«, heißt es in der kompletten Länge – ein Slogan aus dem Erleben der Corona-Krise. Gewohnte Sicht- und Verhaltensweisen zu verändern, neue Perspektiven einzunehmen, das ist zentrales Anliegen für Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zālīte. Das Leitungskollektiv kennt sich über die gemeinsame Arbeit beim Netzwerk junger Künstler*innen »Cheers For Fears« und bei der Ruhrtriennale. Für die künstlerische Leitung des Festivals der Freien Szene, das alle zwei Jahre in Dortmund stattfindet, bewarben sie sich als Team und bekamen die Zusage für zwei Ausgaben. Die Arbeit im Kollektiv bedeutet für sie vor allem: drei Perspektiven, geteilte Verantwortung, unterschiedliche Stärken und Kenntnisse.
Die Freie Szene in NRW beschäftigten derzeit vor allem Covid-Nachwehen, sagt Sina-Marie Schneller. Förderungen seien im Überfluss da gewesen, aber Möglichkeiten, die Kunst zu zeigen, fehlten. »Die gewohnten Abläufe des Produzierens sind durch die Pandemie in Frage gestellt.« Und damit die Wertigkeit des eigenen Kunstmachens: Werde ich das weitermachen können? Wer interessiert sich für die Kunst? Solche Fragen trieben vor allem die jungen Künstler*innen um. Das Programm steht entsprechend auf drei Säulen – neben 30 Produktionen, die analog und digital vom 15. bis 25. September gezeigt werden, gibt es ein digitales Residenzprogramm für den Austausch von NRW-Künstler*innen und internationalen (eine öffentliche Präsentation der Arbeiten ist am 16. September zu sehen) und die Verbindung mit der Stadtgesellschaft: »(Un)Learning Perspectives«. Der Vogelkundler oder die Pflegekräfte sind einige von ihnen, die in Workshops oder bei Touren durch die Stadt zusammenkommen oder das Glossar des (Ver-)Lernens füllen.
Eine Begegnung im Wohnmobil und Gruppentherapie
Die Begegnung als solche ist überhaupt ein wichtiges Thema. Das Kollektiv so was in der art, das mit seiner ersten Arbeit »Sag mir erst, wie alt du bist!« eingeladen ist, bittet zwei Besucher*innen unterschiedlicher Generation in ihr Wohnmobil – ein Aufeinandertreffen in konzentrierter Form, entstanden in der Pandemie. Philine Velhagen und ihr Team setzen auf Gruppentherapie, um Annäherung wieder neu zu lernen (»Der Kreis«). Beim Live-Online-Multiplayer-Theatergame »Der erste Kontakt« von Anna Kpok sitzen alle daheim vor dem Computer. Das Kollektiv experimentiert schon lange vor der Pandemie mit digitalen Formaten. Hofmann&Lindholm ermöglichen den Zauber der Nicht-Begegnung in »Nobody’s there«: zwei Menschen in einer Wohnung, eine*r hat sich versteckt, der oder die andere lebt ihren Alltag – 30 Minuten Nervenkitzel, Lauschen auf ein fremdes Gegenüber.
Zur Eröffnung am 15. September verhandelt Katharina Senzenberger in »Solid Liquid« Machtpositionen. Queerfeminismus und die Frage nach dem (eigenen) Körper sind neben Privilegien, Klima und Zukunft weitere Themen des Festivals. Zudem planen die drei eine nachhaltige Unterstützung der Szene in Form von Ressourcen-Austausch. Bühnenmaterial, technische Mittel, Kostüme können genau so geteilt werden wie Wissen – geplant ist eine Art Schwarzes Brett.
Und die Zugänglichkeit? Das Festival hybrid stattfinden zu lassen, ist eine deutliche Setzung. Außerdem entscheidet das Publikum selbst, wie viel es für einen Besuch bezahlt.
15. bis 25. September, verschiedene Orte in Dortmund und digital