Terra incognita: der Sudan. Im Sand liegt ein totes Kamel, ein Geier hockt neben dem Kadaver. Ein Festzug zieht vorüber. Ein Kind wurde geboren. Die Mutter Sakina (Islam Mubarak) bringt ihren kleinen Sohn Muzamil zum Scheich und Sufi-Weisen Al-Khalifa des Dorfes, um ihn während eines frommen Ritus’ Allahs Gnade anzuvertrauen. Während der Zeremonie passiert ein Unglück, ein Derwisch bricht zusammen – und die Prophezeiung lässt keine Hoffnung, dass der Junge ein langes Leben haben wird. Man nennt ihn »Sohn des Todes«. Etwas wie ein Stigma. Jedenfalls eine schwerwiegende Bürde, die Muzamil und seine Mutter – der Vater geht für lange Zeit fort – zu tragen haben. Besorgnis und Fürsorge aus Ängstlichkeit hüllen ihn ein und beengen ihn.
Muzamil (Mustafa Shehata) soll besonders sein, besonders fromm und gottgefällig in der Koranschule, soll vorbildlich und verantwortlich leben, um das böse Omen nicht wahr werden zu lassen – oder aber sich ihm in Demut zu beugen. Die Leute glauben an die befristete Zeit. Wenn er ans Ufer des Nils tritt und die Füße ins Flusswasser taucht, rufen die anderen: »Willst du ertrinken?«. Oder sie schmieren ihn mit Asche ein und sperren ihn in eine Kiste, als wollten sie das Ende vorwegnehmen. Die Mahnung des Todes verlässt ihn nicht. Sie ist ihm eingeschrieben. Für die Liebe (zu Naima), meint er selbst, sei der Rest des Lebens zu kurz, worauf sie die Braut eines anderen wird. Muzamil träumt ein Pietà-Bild: wie er tot im Schoß seiner Mutter liegt. Oder träumt wie ein Drohbild von seiner Mutter inmitten einer malerischen Gruppe rechtgläubiger Männer.
Muzamil ist herangewachsen und nähert sich der Grenze, die ihm gesetzt wurde, während der Todesengel an seiner alten Tante vorübergeht. Die Frage ist, wie mit dem Fatum umgehen in einer Gemeinschaft, in der alles vom Gesetz des Koran und dem Glauben daran bestimmt wird?
Als er den alten Sulaiman (Mahmoud Elsaraj) trifft, einen früheren Freund seines Vaters, erkennt Muzamil eine Alternative zum islamischen Gebot. Sulaiman liebt das Kino, Musik und Tanz, hat ein Foto von Marilyn Monroe in seinem Zimmer, lebt außerhalb der Konvention. Er kennt Kairo, Südafrika, Europa – Paris und Berlin. Muzamil hört und sieht von ihm eine ihm fremde – moderne, von Religion freie – Welt. Sulaiman lehrt ihn zu denken. »Sünde« nennt es die Mutter und will ihm den Umgang verbieten. Aber Sulaiman kämpft bis zum letzten Atemzug um ihn, er will ihm »den Geruch des Todes« austreiben.
»Mit 20 wirst du sterben« ist der erste im Sudan – einem afrikanischen Land ohne Filmindustrie – produzierte (und international koproduzierte) Film, der für den Oscar nominiert wurde. Eine realistische Geschichte und ein Gleichnis. Das Debüt von Amjad Abu Alala lief auf mehr als 30 Festivals und wurde mehrfach ausgezeichnet. Ein Film der langsamen Bewegung, der stillen Bilder und des Sinns für Schönheit, ein Film des leisen Aufbegehrens gegen die Tradition, gegen das Schicksal zu Gunsten der Entscheidungsfreiheit, während sich im Sudan wieder eine Militärregierung an die Macht gebracht hat und das demokratische Aufbegehren unterdrückt hält. Muzamil wagt den Schritt ins Freie.
»Mit 20 wirst du sterben«, Regie: Amjad Abu Alala, Sudan, Ägypten, Frankeich, Deutschland etc. 2019, 105 Min., Start: 25. August