Ist es ein Schuss, ein Knall, ein Beben? Ein Klang, eine Tonfolge? Es ist ein Geräusch. Wie in Zeitlupe – eine Frau tastet sich im Halbdunkel, aus dem Schlaf geholt von diesem Geräusch, durch ihre Wohnung. Draußen im Hof beginnen geparkte Wagen zu hupen und zu blinken, als habe ein Kurzschluss oder eine Fehlschaltung sie geweckt. Dieselbe Frau, Jessica (Tilda Swinton), ist nach Bogotá gereist. Sie sitzt am Krankenbett ihrer Schwester, die schläft, kurz erwacht, einen Traum erzählt, wieder einschläft. Ihr Schwager rezitiert aus einem Gedicht in Spanisch, unter anderem vom »Parfüm des Verfalls«. Er bittet sie, es ins Englische zu übersetzen. Auf einem Platz wiederholt sich das Geräusch, Leute stieben auseinander. Oder tun sie es nur in Jessicas Vorstellung – halluziniert sie? Es treibt sie um. Es rührt an ihr.
Nur Jessica kann die Detonation hören, ob in einem Restaurant, ob inmitten grüner Dschungel-Natur. Sie kann das Geräusch genau beschreiben. Ein Sounddesigner in einem Tonstudio bringt ihr an seinem Pult Vorschläge zur Rekonstruktion zu Gehör. Es sei »wie ein großer Ball aus Beton, der in einen Metallschacht fällt, der von Meerwasser umgeben ist«, sagt sie.
Jessica liest in Bibliotheken, schaut sich Fotografien in einer Galerie an, verbringt Nächte schlaflos auf Straßen, macht sich mit der Archäologin Agnès auf zu einer bedrohlich irreal aussehenden Ausgrabungsstätte mit Grabfunden, die gut und gern ein Alien beherbergen könnten. Sie spricht mit einer Ärztin, die ihr Jesus und Salvador Dalí ans Herz legt, aber ihr dann doch Pillen zur Beruhigung verschreibt. Und im Besonderen trifft sie an einem idyllischen Ruheort den mystischen Fischer und Schlafes Bruder Hernán, der nie sein Dorf verlassen hat, um seinen Sichtkreis bewusst einzuschränken: »Erfahrungen sind schädlich«, sie wirbelten in seinem Kopf herum, meint er und auch, dass er nicht träumen würde. Er wird zum Medium und Seelenführer für Jessica, zur Quelle von Klarheit.
All dies, Annäherungen, Hinweise, Ahnungen, Déjà-Vu-Schübe, Schwingungen, Berührungen, spirituellen Austausch, nimmt sie auf, um Kontakt zu dem sich ihr wie aus dem Nichts bemerkbar machenden Geräusch herzustellen. Als ginge sie durch ein Museum unsichtbarer Gegenstände und Klangkörper. Das vor allem ein Raum zu sein scheint, der sich aus ihrem Inneren, tief vergrabenen Erinnerungen und dem dort gestauten Tränensee speist.
Befindet sie sich in den Tiefen des Wahns? »The Depths of Delusion« heißt die Band, in der jener Tontechniker spielt, der ihr die fertig gemischte Version des Geräuschs überreicht. Aber Tags darauf will niemand in dem Aufnahmestudio ihn kennen. Es gibt ihn nicht. Aber Wahn ist auch nur ein Wort, selbst wenn es anderes als einen pathologischen Zustand ausdrückt. Oder wie wäre das Bild zu deuten, wenn Jessica in einem Moment der Erlösung sieht, dass etwas wie ein gewaltiges Urtier dem Smaragdwald entsteigt und abhebt als Flugkörper, der einen hellen Lichtkreis zurücklässt?
Kolumbien: Erstmals hat der 1970 in Bangkok geborene Regisseur Apichatpong Weerasethakul – ein Meister des Weltkinos, der nach »Cemetry of Splendour« (2015) für »Memoria« in Cannes den Preis der Jury erhielt – nicht in seiner Heimat Thailand gedreht. Und so ist dieser seltsam schöne, unauflösbare Film auch die Begegnung eines Künstlers mit einer ihm fremden Welt und Kultur. Es liegt nicht fern, an Pina Bauschs Tanztheateraufführungen zu denken, die sie mit ihrer Compagnie durch das Inhalieren anderer Städte und Länder entwickelte, indem sie einen visuellen, akustischen, psychomotorischen Gedächtnisspeicher anlegten.* * * * *
»Memoria«, Regie: Apichatpong Weerasethakul, Kolumbien / Thailand / Mexiko / Frankreich 2021, 136 Min., Start: 5. Mai