Es könnte das Studio von Henri Matisse in Vence sein mit dem rotgerahmten offenen Fenster hinaus in die grün lockende Natur, mit Aktzeichnungen, weiblichen Porträtstudien und Skizzen, mit Palette, Pinsel und Schere auf dem Arbeitstisch. Darauf liegt auch ein blau eingebundenes Buch, das zwei alte bräunliche Hände aufschlagen. So beginnt die Geschichte, vorgetragen mit der weichen Stimme von Hanna Schygulla. Gezeichnete Bilder eines Dorfes, eines Hauses, einer Familie, Ansichten der Mutter mit mandelförmigen Augen und dunklem Haar, dem schnurrbärtigen Vater mit schwarz gelocktem kurzem Haar, ihren Kindern, darunter Kyona, die Erzählerin, und ihr Bruder Adriel.
Dann, als die Flucht der beiden Geschwister beginnt, füllt die Leinwand sich farbig. Die Dorfbewohner müssen erleben, wie ihre Heimat in Brand gesteckt wird und vermummte Nachtgestalten – Soldaten und Milizionäre einer namenlosen, hassenden Macht – Tod und Gewalt über die »Juriden« bringen und sie als Ungeziefer und Ratten bezeichnen. Wir kennen die Sprache des Unmenschen aus der historischen Vergangenheit und Gegenwart, die diese »Odyssee« mit einer fiktiven Geografie, fiktiven Landesnamen und Bevölkerungen ins Allgemeine überführt. Unterwegs folgen Verluste auf Begegnungen, folgen neue Menschen auf solche, die aus dem Gesichtskreis schwinden oder wiederkehren, folgt Freundschaft auf Verrat und auf Verrat – wenn dies gnädig zu erlangen ist – Vergessen.
Die Eltern werden verhaftet und weggeschafft. Kyona in Gelb-Rot und Adriel in Blau-Rot-Grün treffen auf eine Gruppe Straßenkinder unter Führung von Iskender und werden selber welche. Ein zwielichtiger blonder Dunkelmann in rot abgesetztem Schwarz verhilft ihnen zu entkommen, jedoch nur, um sie – jenseits des Wassers – zu verkaufen. So geraten sie in die Villa des dicken Finanzmoguls Maxim und seiner Soubretten-haften Frau Flora-Belle mit viel zu roten Krallen-Nägeln und Lippen, und werden angenommen an Kindesstatt, gehalten wie Maskottchen, umgetauft in Janet und Peter.
Bruder und Schwester scheinen sich einen Moment lang zu entzweien (das Motiv entstammt Andersens »Schneekönigin« mit Gerda und Kay), und es sieht so aus, als ob Peter / Adriel sich verhätscheln lassen und sein falsches neues Heim nicht aufgeben wolle, während Janet / Kyona renitent und unbeliebt bleibt. Eine neue Elektra. Beide, als wären es Hänsel und Gretel, suchen das Weite, müssen in den bedrohlichen Märchenwald, den ein stürmender Kälte-Einbruch und heulende Wölfe noch unwirtlicher machen. Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch. Eine Pfeife rauchende alte Frau, schrundig wie ein betagter Baumstamm, nimmt Kyona auf in ihrer Hütte und mummelt sie ein wie ein Eskimomädchen. Adriel aber ist verschollen.
Als es Sommer wird, geht Kyona allein fort. Sie trifft auf einen bunten Zirkus; und dort findet sie Adriel, getarnt als Mädchen, wieder. Unter dem Schutz der Artisten, Akrobaten und Gaukler nähern sie sich der Grenze, nun in Begleitung des schönen eitlen, doch treuen Erdewan. Aber Soldaten greifen sie auf und sperren sie ins Lager. Durch einen Tunnel können sie schließlich flüchten und kommen ans rettende Licht auf die andere Seite. Ins Freie. Dort, wo Zukunft ist.
Die staunenswert künstlerische Umsetzung in der Technik gemalter Animation auf Glas – mal in satten Farben und breiten Strichen, mal filigran, hingetupft oder wie zerfließend – gleicht einem Exkurs zur Kunstgeschichte. Lässt an den frühen Picasso denken, an Cocteau, Chagall, Gauguin, an James Ensor oder die »Tunisreise« von August Macke und Paul Klee und manches mehr.
Für die Regisseurin Florence Miailhe bildet die Flucht ihrer Urgroßeltern aus Odessa den Ursprung. Auf diesem Urgrund weitet sich ihre filmische »Odyssee« zur konkreten Allegorie, montiert aus Mythenmaterial und den Erfahrungen realer Pogrome, Kriege und Krisen, Menschenhandel, Kasernierung, Migration und Heimatvertreibungen, die in unseren Tagen mitten in Europa so akut sind wie selten zuvor.
»Die Odyssee«, Regie: Florence Miailhe, Frankreich / Deutschland / Tschechien, 2021, 84 Min., Start: 28. April