Das Kölner Acht-Brücken-Festival widmet diesmal dem amerikanischen Komponisten Morton Feldman einen Schwerpunkt – und der Musik als Hort der Erinnerungen.
Vor so einem Schockmoment hat selbst der Top-Pianist oder die Star-Geigerin bisweilen gewissen Bammel. Davor, dass einem während des Konzerts, wie aus dem Nichts, das durchtrainierte Gedächtnis einen Streich spielt und man einfach nicht mehr weiterweiß. Was folgt, sind Sekunden der brutalen Stille, der Hilflosigkeit. Doch solche Fehler auf der menscheigenen Festplatte sind geradezu banal gegenüber den Beispielen, die der Hirnforscher Oliver Sacks einmal in seinem Kultbuch »Der einarmige Pianist« aufgelistet hat. Da nämlich erzählt er etwa von einem gewissen Martin, der wohl in Folge einer Gehirnhautentzündung tausende Opern und alle Bach-Kantaten abspeichern konnte. Oder einer Parkinson-Patientin musste Sacks nur die Zahl »op. 49« sagen, und plötzlich wurde sie völlig entspannt, weil sie diese Zahl an ein geliebtes Chopin-Werk erinnerte. Die Musik und das Gehirn – eine bis heute immer besser erforschte, aber trotzdem weiterhin faszinierend rätselhafte Verbindung.
Diesem Zusammenspiel widmet sich nun in seiner 12. Ausgabe das auf die Moderne abonnierte Kölner Acht-Brücken-Festival. »Musik Amnesie Gedächtnis« lautet das Motto. Die musikalische Reize, die dabei im Laufe der rund 50 Konzerte über das Ohr auf das Gehirn einprasseln, reichen da von vertrauten Klängen à la Richard Strauss’ »Ein Heldenleben« über klangakustische Laptop-Performances bis hin zu zahlreichen Uraufführungen etwa von Beat Furrer und Robert HP Platz.
Zehn Tage lang dreht sich so alles um die Musik als facettenreich sinnliche Stimulanz für die verschiedensten Hirnaktivitäten. Mal ist sie Erinnerungsspeicher, mal Glückshormon-Shooter. Und dann wieder bieten Klassiker der Neuen Musik, aber auch neueste Stücke die Möglichkeit, völlig abzuschalten und sich dem reinen Klangsignal hinzugeben. So lädt etwa der für seine multimedialen, oftmals surreal anmutenden Performances bekannte Komponist Alexander Schubert zum Besuch seiner »Sleep Laboratory« ein, bei dem das Publikum zusammen mit dem Ensemble United Instrumental of Lucilin sich auch in der Poesie des Traumes verlieren kann. In den mehrstündigen Klavierstücken des Amerikaners Morton Feldman löst sich immer mehr das strukturelle Hören zugunsten des Hineinlauschens und Hineintauchens in die Musik auf.
Bespielt wird das ganze Stadtgebiet
Überhaupt ist dem 1987 verstorbenen Weggefährten von John Cage in diesem Jahr das Komponistenporträt gewidmet. Dabei gibt es nicht nur ein Stelldichein von namhaftesten Interpreten wie dem Klangforum Wien, dem Bratscher Antoine Tamestit sowie den Pianistinnen Hsin-Huei Huang und Helene Basilova, die bereits um 8 Uhr morgens den Tag mit großformatigen Feldman-Kompositionen einläuten. Unter der Leitung von David Robertson präsentiert das Amsterdamer Concertgeboueworkest Feldmans legendäres Orchesterstück »Coptic Light«, in dem Musik sich in ein ultrafeines, chromatisches Klanggewebe verwandelt und fast eine halbe Stunde lang sanft in Schwingung gerät.
Auch für solche aufwendigen Highlights ist natürlich die Kölner Philharmonie der ideale Aufführungsort. Aber erneut wird bei und mit dem Acht-Brücken-Festival das ganze Kölner Stadtgebiet bespielt. In der »TanzFaktur« trifft das auf zeitgenössische Streichquartettmusik spezialisierte Asasello Quartett auf den Chor »EinfachMalSingen«, der sich aus Menschen mit und ohne Demenz zusammensetzt. Im WDR Funkhaus heben die Kölner Vokalsolisten und das Ensemble Ruhr Marcus Schmecklers »Schreber Songs« aus der Taufe – eine Hommage an Daniel Paul Schreber, den Begründer der gleichnamigen Kleingärtnerkultur, der zudem an einer Psychose litt. In der Stadthalle Köln-Mülheim gastiert das Klangforum Wien mit einem musikalischen »Symposium« zum Thema »Rausch«. Mit Ensemble- und Vokalwerken von Mahler über Tristan Murail bis zur Minimal-Music-Ikone Terry Riley feiert man viele Stunden lang auch anhand leiblicher Genüsse das Leben.
Doch nicht nur bei solchen Klangfesten schüttet das Gehirn reichlich Endorphine aus. Auch bei zwei musikalischen Reisen jenseits konfektionierter Koordinatensysteme sorgt der Botenstoff Dopamin für Glücksgefühle. Das kanadische Ensemble Constantinople bringt von Landsmann Claude Vivier sein Großwerk »…et je reverrai cette ville étrange…« mit, das mit klassischen und traditionellen Instrumenten auf den Spuren Marco Polos wandelt. In ganz andere Sphären bricht man hingegen mit dem Sun Ra Arkestra auf, das einst von Herman Poole Blount alias »Sun Ra« gegründet wurde. Allein schon äußerlich war er in seinem silbern-glitzernden Walle-Walle-Gewand nicht von dieser Welt. Setzte er dann noch mit seiner Big-Band zu einer seiner legendären kunterbunten Voodoo-Jazz-Sessions an, erklangen dabei immer auch solche von ihm erfundenen kosmischen Instrumente wie die Sonnenharfe.
Seit Sun Ra nun angeblich auf Saturn lebt, fungiert der inzwischen auch schon 97-jährige Saxophonist Marshall Allen als sein Stellvertreter auf Erden. Nun landet das Sun Ra Arkestra-Raumschiff am Rhein. Auch dieses Konzert dürfte anschließend im Langzeitgedächtnisspeicher aufbewahrt werden.
»Musik Amnesie Gedächtnis«
Acht Brücken. Musik für Köln 2021
29. April bis 8. Mai 2022