Haltestelle Kalk-Post. Vorbei an Handy-Läden, den Kalk-Arcaden, einem kurdischen Imbiss und der Tauhid-Moschee in die Villa Kalka. Das Café wird von Nawid und Noriko geführt, es gibt französische, japanische und orientalische Küche. Yannic Han Biao Federer nimmt einen großen Kaffee, schwarz.
Die Villa Kalka scheint ein passender Ort zu sein, um über sein zweites Buch zu sprechen. »Tao« springt von hier in Köln-Kalk nach Zollstock, weiter nach Rügen, in die Eifel, von Südbaden nach Hongkong und Indonesien. Tao, Namensgeber und Protagonist des Buches, wird von allen nur Tobi genannt. Einzig seine Ex-Freundin Miriam kennt seinen chinesischen Vornamen. Als sie ihn verlässt, beginnt er zu reisen und zu schreiben, auf der Suche nach sich selbst und der Geschichte seiner Familie.
Yannic Han Biao Federer, aufgewachsen in Südbaden, studierte Germanistik und Romanistik in Bonn, Florenz und Oxford. Handelte sein erster Roman »Und alles wie aus Pappmaché« noch von vier Jugendlichen in der badischen Provinz, tastet er sich mit »Tao« nun vorsichtig in seine eigene Vergangenheit, die Geschichte seiner Familie hinein. Ging es im Debüt noch um die Selbstfindung junger Menschen in ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft, stellt er in seinem neuen Buch die Frage nach der Identität durch die eigene Familien- und Migrationsgeschichte. »Ich habe Tao geschrieben, weil es mir um die Brüche, die Leerstellen, den Verlust von Erinnerung ging. Und darum, gegen diesen Verlust anzuerzählen. Auch mit Mitteln der Fiktion.« 2019 hatte Federer bereits einen Teil des Romans beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vorgelesen und den 3sat-Preis gewonnen. Der Schriftsteller selbst kam in der Bachmann-Fassung des Romans noch vor. Inzwischen wurde er gestrichen. »Tao« scheint auch ein Schutzwall zu sein, ein Alter Ego, dass den Vorteil hat, Literatur zu sein.
Im Buch begibt sich der Protagonist auf die Suche nach seinem Vater, der irgendwo in Hongkong verschwunden ist. Dieser hatte wiederum eigentlich Taos Großvater gesucht, der als Kind nach Indonesien verkauft worden war – in der Republik China oft das letzte Mittel für arme Familien, die restlichen Mitglieder zu ernähren. Dabei wurden die Töchter häufig zwangsverheiratet oder zur Prostitution gezwungen, während die männlichen Nachkommen sohnlosen, aber wohlhabenderen Familien die Weiterführung der Familienlinie ermöglichten oder als Hausdiener versklavt wurden. Yannic Federer: »Die Geschichte meines Großvaters wurde in meiner Familie immer totgeschwiegen. Mein Vater hat davon sehr spät erfahren, sogar meine Großmutter wusste lange nichts davon.«
Federer betont dennoch, dass »Tao« keine Autobiografie sei. Sondern ein Roman, der zwar mit den Erlebnissen und der Vergangenheit des Autors gespeist ist, aber letztendlich eines bleibt: Literatur. Autofiktion sei eigentlich sogar näher an der eigenen Erinnerung.
»Erinnerung ist immer Erzählung und Erzählung immer auch Konstruktion. Autobiografie suggeriert dagegen, man könne verlustfrei und unverstellt die eigene Geschichte wiedergeben. Ich wüsste nicht, wie das möglich wäre.«
Yannic Han Biao Federer
Entlang der Kalk-Mülheimer-Straße, Familien mit Kinderwägen, vor dem türkischen Café stehen ältere Männer und rauchen, im Asiamarkt herrscht reger Betrieb. Obwohl die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft inzwischen selbstverständlich sein sollte, wird doch immer wieder die Frage gestellt: Woher kommst du? Auch Tao und Yannic Federer werden das oft gefragt, auf Hochzeiten, bei Dates. Sie bekommen Komplimente, wie gut sie deutsch sprechen. Federer spricht über das Vorurteil, das in der Frage mitschwingt: »Die Menschen sind dann auch nicht zufriedenzustellen. Es wird immer weiter gefragt. Und du musst dich rechtfertigen, warum du hier bist.«
Der Roman sei auch der Versuch, diese erzwungene Auseinandersetzung mit sich selbst zu zeigen: »Auf der einen Seite vergisst Tao selbst ganz häufig, dass ein Teil von ihm von dem Verlust von Tradition und Erinnerung geprägt ist. Auf der anderen Seite wird er zwangsläufig auf die Fragen zurückgeworfen: Woher kommst du? Woher kommen deine Eltern?« Auch Tao schreibt an einem Roman und erfindet die Figur Alex. Sie ist Taos Stellvertreter. Es falle leichter, über ähnliche Geschichten zu sprechen, die nicht die eigenen sind, sagt Federer – auch wir reden bei unserem Treffen viel über Tao und eher wenig über ihn.
Gerade diese Distanz zwischen Yannic und Tao und auch zwischen Tao und Alex macht das Buch so ausdrucksstark. Die Geschichte, die Vergangenheit ist da, aber auch der Schmerz, die Scham. »Tao« zeigt die Schwierig-, aber auch die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Durch die Vielzahl der Zeiten, Charaktere und Orte erscheint ein Mosaik, aus deren Steinchen sich ein Ganzes ergibt.
Vor dem Kaufland campieren Obdachlose, es regnet. Hier wohnt Tao, seitdem er nicht mehr mit Miriam zusammen ist. Hier sind Hongkong, die Proteste, die Flucht seines Vaters aus Indonesien weit entfernt. Und trotzdem, acht Kilometer weiter liegt die Kölner Iltisstraße, benannt nach dem deutschen Kanonenboot, das 1900 zur Niederschlagung des sogenannten »Boxeraufstandes« in China entsandt wurde. Kaiser Wilhelm II. hatte mehrere Reden gehalten, in denen er dazu aufrief, die Aufständischen zu töten. Auch 1965 war die Machergreifung Suhartos in Indonesien von den westlichen Mächten unterstützt worden. Die Usurpation führte zum Massaker, bei dem eine Million unbewaffnete, chinesischstämmige Einwohner und Sympathisanten der Kommunistischen Partei getötet wurden. Auch diese Tragweite der Geschichte und Erinnerung kommt im Buch vor: »Micha fragt, ob ich noch sauer bin. Ich schicke ihm ein Bild von der SMS Iltis. Okay, ein Schiff, warum?, antwortet er. Pardon wird nicht gegeben, schreibe ich, Gefangene nicht gemacht. […] Ich warte. […] eine Nachricht bekomme ich nicht mehr.« Federer dazu: »Ich hoffe, dass das die Leute zum Googlen bringt. Es ist wirklich frappierend, wie der westliche Blick um sich selbst kreist. Es heißt oft, wie schlimm es ist, was die da drüben machen. Dabei hat der Westen auch einen wesentlichen Anteil daran.« Federers Buch zeigt, dass die Geschichte der Kolonialzeit, die Autobiografie unserer Eltern und Großeltern bis in unsere Gegenwart reicht. Die Erinnerung speist sich aus allen Geschichten, zumindest aus denen, die erzählt werden. »Tao« ist eine davon.
»Tao« von Yannic Han Biao Federer erscheint am 9. März im Suhrkamp Verlag. Die Buchpremiere findet am selben Tag im Literaturhaus Köln statt: literaturhaus-koeln.de