In solchen Nächten müsste eigentlich der Mond am Himmel stehen. Schon aus Romantikgründen. Muss ja nicht direkt der kreisrunde »big pizza pie« sein, es würde bereits reichen, wenn er sich interessant hinter Wolken hervorschieben würde und die dunklen Ecken der Welt mit silbrigem Licht ausfüllte. Andererseits ist auf solchen Spaziergängen wenig Platz für Romantik. Man sollte allein gehen, sich entweder aufmachen in frühe Dämmerungen oder warten, bis es dunkel ist.
Dann, wenn die Fenster der Häuser zu hellen Rechtecken oder Quadraten werden. Lebensausschnitte. Menschen, die sich unbeobachtet fühlen, in Küchen und an Tischen. Das metallische Flackern der Fernsehbildschirme, aus einem geöffneten Fenster weht eine Gardine nach draußen. An den Festtagen Aussichten auf Tannengrün und Lichterketten. Teils hektisch blinkende Signale an die Außenwelt. Aus dem Hintergrund vereinzelt das scharfe Knallen schnell heruntergelassener Jalousien.
Man ist allein mit sich auf diesen Spaziergängen, gerade im Herbst oder Winter. Ein unangekündigter Gast, ein Streuner durch fremde Straßen. Nur manchmal kreuzen sich Wege. Eine Frau führt ihren Hund um die Häuser, redet leise auf ihn ein. Einige Leute stehen vor den abgeklebten Scheiben des Spielautomaten-Casinos; frierend, rauchend, lachend. Zwei Häuser weiter übt jemand Geige hinter gekippten Fenstern. Gelegenheit, einige Zeit stehenzubleiben. Zuhören. Auf der anderen Straßenseite hat jemand die selbe Idee. Blickt auf, schaut herüber. Um das Lächeln zu erkennen, ist es fast zu dunkel.
Straßenlaternenschicksale
Die einsame Rolltreppe, die von der U-Bahn hinauf ins Freie führt, summt und rumpelt. Laub, Papierfetzen und Zigarettenkippen sind von den Stufen nach oben befördert worden, können an der Kante nicht weiter und taumeln in immer gleichen Bewegungen durcheinander. Von unten streift ein angewärmter Luftzug.
Wie gesagt – ein bisschen Mond wäre jetzt schön. Von wegen. Stattdessen tiefhängende Wolkendecken, die das Licht der Stadt rötlich reflektieren. Um die Milchstraße zu sehen, müsste man weg von hier. Feuchtigkeit liegt in der Luft, gibt den Lichtkegeln der Laternen und Leuchtreklamen diffuse Formen. Manche sagen, dass man Stadtviertel an ihrem Licht erkennen könnte. Stimmt. Hier leuchten die Straßenlaternen in einem merkwürdigen, warmen Orange. Und machen alles irgendwie zu Gold. Ist aber immer noch weit besser als dieses funzelige Nebenstraßenlicht. Wo die Laternen so alt sind, dass scheinbar auch deren Licht müde und matt geworden ist, oder die irgendwann von Halbstarken ausgetreten und seitdem ignoriert wurden. Straßenlaternenschicksale.
Hinter den bunten Scheiben der Eckkneipe ist noch Licht. Stimmen, Lachen, Musik, schwer zu identifizieren, welches Stück. Nur die Bässe dringen dumpf nach außen. Man muss aufpassen. Wenn man hier länger stehenbleibt, verwandelt man sich in Udo Jürgens und wird auf ein alkoholhaltiges Getränk mediterranen Charakters eingeladen. Wäre einen Selbstversuch wert, aber nicht in dieser Nacht. Im Eingang des Tabak- und Zeitschriftenladens liegen eingeschweißte Zeitungspacken, dem daneben schlafenden, in einen Schlafsack gewickelten Obdachlosen hat jemand drei Zigaretten hingelegt.
Es riecht nach Weichspüler und Waschmitteln
Nicht alles hat geschlossen, im Fenster der Dönerbude blinkt tapfer ein krawallbuntes LED-Licht »Open« in die Nacht. Der Drehspieß ist bereits heruntergeschnitten, wartend auf späte Dönertaschen- oder Taxiteller-Interessent*innen. Auf dem Fernseher über dem Tresen läuft halblaut eine bunte Gameshow.
Der Waschsalon zwei Ecken weiter hat auch noch auf, aus der offenen Tür riecht die Nachtluft ein paar Schritte lang nach Weichspüler und Waschmitteln. Eine der Maschinen schleudert brummend, auf dem grauen Linoleumboden liegt eine zurückgelassene, gelbe Socke. Unterwäscheschicksale.
Hinten schaukelt ein später, hellerleuchteter Linienbus durch das Stadtbild wie ein fahrendes Wohnzimmer. Ansonsten ist die große Kreuzung leer, die Ampeln schalten sich dennoch stoisch durch ihren angestammten Rhythmus. Wenn es jetzt kitschig werden müsste, hätte es geregnet haben sollen, dann könnte sich das Licht dekorativ in den Pfützen spiegeln. Hat es aber nicht. Noch kitschiger wäre Neuschnee. Aber auch sehr schön, vor allem, wenn er nachts kommt und für einige Stunden eine Decke über die Stadt legt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.