Weihnachtszeit ist Theaterzeit und die Häuser sind voll. Was hat das Familienstück, was das Theater sonst nicht hat? Die Dramaturginnen Cathrin Rose (Schauspielhaus Bochum) und Romi Domkowsky (Theater Oberhausen) müssen viel diskutieren, weil sie Experimente im Kinder- und Jugendtheater wagen. Sie erzählen vom hohen Erwartungsdruck der Erwachsenen. Und von ihrem Weg, die jungen Menschen stärker in den Blick zu nehmen.
kultur.west: Alle Jahre wieder – mal abgesehen von Corona-Lockdowns – steht ein Familienstück auf dem Spielplan der Theater, kurz vor Weihnachten. Schulklassen kommen in Bussen angefahren. Was ist da los?
ROSE: Ja, eigentlich ist das Weihnachtsstück eine tolle Position. Alle Grundschulen kommen, da sitzt die gesamte Gesellschaft im Zuschauerraum. Gleichzeitig ist es eine Position, an der wahnsinnig viele Erwartungen hängen. Die zum Beispiel, es müsse immer ein Kinderbuch inszeniert werden, am besten eins aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, also meine Generation Kinderbücher. Das ist das, was die Eltern gerne sehen wollen. Ich kann das verstehen, aber da ist doch die Zeit drübergegangen. Die Älteren wollen etwas Warmes. Aber ich glaube, Theater kann und muss nicht alle glücklich machen.
DOMKOWSKY: Ich habe auch gemerkt, dass das Familienstück keine gute Position für Experimente ist, das ist meine resignierende Feststellung nach vier, fünf Jahren Stadttheater. Weil der Erwartungsdruck so groß ist. Und zwar von Menschen, die nur einmal im Jahr ins Theater gehen, und zwar vor Weihnachten. Die kommen ja nicht, weil sie etwas über Theater und zeitgenössische Formen lernen wollen. Die möchten das sehen, was sie als Kind schon gesehen haben. Und sie möchten möglichst ohne Fragen und ohne große Aufregung wieder aus dem Theater rausgehen.
ROSE: Aber gleichzeitig hat man da auch die Schulklassen drinsitzen. Und ich muss auch Geschichten erzählen für die Kinder, die nicht weiß sind. Unsere Gesellschaft verändert sich. Am Wochenende ist es ein sehr weißes Publikum. In den Schulvorstellungen haben wir aber die Zukunft im Theater sitzen. Ich glaube, man muss auch etwas riskieren.
kultur.west: In Oberhausen kommt im Januar »Peter Pan« als Familienstück heraus. In Bochum läuft »Die unendliche Geschichte«. In beiden Inszenierung sind die Hauptrollen gegengeschlechtlich besetzt, von schwarzen Schauspielerinnen. Ist das so ein Schritt auf dem gemeinsamen Weg?
ROSE: Ich glaube, »Die unendliche Geschichte« ist ein Angebot, aber wir machen es dann doch richtig, wir zeigen beide Teile. Sonst wird in der Regel nur der erste Teil gespielt. Damit machen wir es den Leuten nicht leicht, wenn wir sagen, kommt und schaut euch drei Stunden Theater an. Ich werde sehen, wie es wird. Auch, weil wir es anders besetzt haben. Das funktioniert mit der Geschichte total gut, denn es geht um Phantasie. Kinder verkleiden sich und sie können alles sein.
DOMKOWSKY: Es ist immer schwieriger, in einem Saal mit 480 Personen auf Momente der Irritation einzugehen. Das geht besser, wenn das Auditorium kleiner ist, weil auch die Spieler*innen anders reagieren können. Wer entscheidet, Cathrin, das ist doch die Frage, wer entscheidet, ob junge Menschen diese Produktion sehen? In der Vermittlungsposition sind ja in der Regel immer noch die Lehrer*innen. Wir hatten zum Beispiel den Fall bei unserem Familienstück »Keloğlan Eulenspiegel« 2019 [der Zusammenschnitt einer fiktiven Figur aus der türkischen Kultur und aus der deutschen, Anm. der Red.], das war ein unbekannter Stoff für die Mehrheitsgesellschaft, und das war der Moment, in dem die Verkaufszahlen fürs Weihnachtsstück stark zurückgingen. Eine Lehrerin hat die Inszenierung vorher privat gesehen, dann eine Schulkonferenz einberufen und in Folge den Besuch für die ganze Schule abgesagt.
kultur.west: Mit welcher Begründung?
DOMKOWSKY: Weil es ihr ästhetisch nicht zugesagt hat, weil es keine Geschichte gibt, weil die Kinder das nicht verstehen – das ist ja immer meine Lieblingsbegründung…
ROSE: Ja, die Erwachsenen wissen immer ganz genau, was Kinder verstehen.
kultur.west: Was könnte man tun, um den Blick der Erwachsenen zu weiten?
DOMKOWSKY: Immer wieder einladen. Es braucht eine vorurteilsbewusste Haltung der Erwachsenen. Ein Wissen darüber, dass ich diese Vorurteile reproduziere in der Sozialisation der Kinder, die mir anvertraut sind. Wer lehrt denn in der Schule? Die meisten haben eine Prägung aus den 1980er Jahren. Da kannst du mit einer Ästhetik des damaligen Gripstheaters kommen und sie würden das super finden. In dieser Perspektive geht man noch davon aus, dem Kind erklären zu müssen, wie die Welt funktioniert.
ROSE: Für viele Lehrer*innen ist es eine gute Vorstellung, wenn die Kinder ganz still sind. Das sehe ich ja gar nicht so. Das schlimmste und lauteste in diesen Vorstellungen ist dieses »Pscht!«. Wenn Kinder reden, reden sie in der Regel über die Dinge auf der Bühne. Damit können die Schauspieler*innen umgehen. Ich sehe auch unruhige Kinder. Ja, lasst sie unruhig sein, sie müssen sich fürs Theater nicht verändern. Ich liebe Jetse Batelaan für seine Inszenierungen, die vierte Wand ist immer irgendwann weg. Wir haben im Dezember ein Gastspiel [»Das Tier, das Tier und das Tierchen«], da feiern am Ende alle gemeinsam eine Geburtstagsparty für die Hauptfigur.
kultur.west: Wie sprechen Sie mit Kindern über Theater?
ROSE: Wir stellen erst mal offene Fragen: Welches war der beste Moment und welches der schlechteste? Mich interessieren natürlich vor allem die schlechten Momente.
DOMKOWSKY: Ich frage: Wenn ihr nach Hause kommt, was erzählt ihr euren Eltern und Geschwistern, was ist euch im Kopf oder im Herzen oder im Bauch geblieben? Und meine Nachbereitungen orientieren sich immer an der Ästhetik der Inszenierung. Ich bleibe im Spielerischen. Ich bin ja keine Lehrerin, die das Stück noch mal analysiert.
kultur.west: Was sind die Themen, die Kinder und Jugendliche aktuell interessieren?
ROSE: Wir haben unsere »Drama Control«, einen Jugendaufsichtsrat, und sind ständig im Austausch. Bei den Jüngeren ist es zum Beispiel das Thema Tod, das hat unsere Fünfjährige vorgeschlagen. Dazu wird es ein Stück geben, ab vier Jahren. Ich selbst hätte mich das gar nicht getraut. Wir werden viel Vorbereitung leisten müssen, denn auch die Erzieher*innen werden Angst haben. Bei den Jugendlichen ist es vor allem das Thema Gender, Identität. Sie beschäftigen sich extrem mit den Fragen: Bin ich weiblich, bin ich männlich oder ich will eigentlich keins von beiden sein? So wird es halt ein Thema für uns.
DOMKOWSKY: Für »Oh yeah, Baby!«, ein Discostück für Menschen ab anderthalb Jahre, sind wir ein Jahr vor der Premiere drei Wochen lang in eine Kita gegangen und haben dort ‚geforscht‘. Die Kinder haben sich so stark wiedergefunden später in der Inszenierung, sie haben den Theaterort als den ihren erkannt. Das ist unbedingt ein Plädoyer von mir, auch in der Produktionsphase mit Kindern zusammenzuarbeiten. Mit den Menschen, für die diese Produktion auch gedacht ist. Und dann nimmt man auch gut die beteiligten Erwachsenen mit.
Zu den Personen
Romi Domkowsky kam 2017 als Teil des künstlerischen Leitungsteams ans Theater Oberhausen, arbeitet dort als Dramaturgin und Theaterpädagogin und baute die Experimentierwerkstatt »theater:faktorei« auf. Sie promovierte über die Wirkungen des Theaterspielens und war Professorin für Ästhetische Bildung und Theater an der Evangelischen Hochschule Berlin.
Cathrin Rose ist seit 2018 Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum und leitet dort das Junge Schauspielhaus. Dessen neue, eigene Spielstätte, das Theaterrevier, wurde im September 2020 eröffnet. Vorher arbeitete sie von 2002 bis 2017 für die Ruhrtriennale als Dramaturgin und baute die Vermittlungsabteilung auf. Zwei ihrer erfolgreichen Projekte dort: »No Education« und »Junge Kollaborationen«.
»Peter Pan«, Theater Oberhausen, ab 29. Januar
»Die unendliche Geschichte«, Schauspielhaus Bochum, 22., 25., 26. Dezember