Sonntag, zwanzigfünfzehn. Der Deutsche ist auch dann pünktlich, wenn es um das Ritual der wöchentlichen Leichenbeschau geht. Seit 1970 gibt es am Ende der Woche Mord und Totschlag, unheilvoll umflackert vom glücklicherweise nie modernisierten Vorspann und umjazzt von Klaus Doldinger mit Udo Lindenberg am Schlagzeug. Schon ein Jahr später etabliert der WDR mit dem Zollfahnder Kressin seinen ersten Tatort-Kommissar, der keiner ist. Stattdessen ermittelt Sieghardt Rupp als draufgängerischer Bond-Verschnitt mit schneidiger Coolness. Er umgibt sich mit hübschen Frauen, trägt Lederjacke und Pomade im Haar und fährt einen weißen Porsche-Cabrio. Er kommt zwar aus Köln, ermittelt aber auch in anderen Städten und Ländern. In seinem ersten Fall in Hamburg, Mitte 1972, verschlägt es ihn nach Bonn.
Eine Republik, so lässig wie Kressin
n »Kressin und der Mann mit dem gelben Koffer« (Buch: Wolfgang Menge), geht es um Waffenhandel und einen zwielichtigen Mann, der beim Betreten des Bundeshauses von einem Scharfschützen erledigt wird. In der damaligen Hauptstadt regiert zu dieser Zeit die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, die Architektur des Foyers im Bundeshaus strahlt offen und hell. Eine Republik, so lässig wie Kressin, der erst mal nicht auftaucht. Stattdessen tritt ein Kommissar Göbel auf den Plan, der von Rudolf Schündler gespielt wird, den Cineast*innen als Oberstudienrat Dr. Knörz aus »Die Lümmel von der ersten Bank« und aus Wim Wenders‘ »Der amerikanische Freund« kennen. Dazu gibt es Gastauftritte der Journalisten Friedrich Nowottny und Ernst-Dieter Lueg, sowie von Eberhard Feik, dem späteren Partner von Horst Schimanski, der hier als Schutzpolizist die Schaulustigen zur Seite pöbeln darf.
Sieben Folgen produziert der WDR bis 1973 mit Kressin, dann übernimmt mit Hansjörg Felmy als Kommissar Heinz Haferkamp ein völlig gegensätzlicher Charakter. Ein seitengescheitelter Beamter im Columbo-farbenen Mantel. Nachdenklich, melancholisch, geschieden; ein Feingeist, der nach Feierabend Jazz hört und Frikadellen mag. So viel ausgestellte Erdung musste dann doch sein. Haferkamps Revier – Essen und das Ruhrgebiet, seinerzeit noch pittoresk qualmendes Industrieland, in dem lässiges Cabrio-Cruisen eher ungesund ist. Nicht alles, was Essen darstellen soll, ist es auch. Schon damals beginnt man damit, Szenen in München, zu drehen. Echtes Ruhrgebiet gibt es in der Folge »Fortuna III« zu sehen, wie das ehemalige Stadion Am Lindenbruch in Katernberg oder die stillgelegte Zeche Pörtingsiepen am Baldeneysee. Teilweise umweht die Szenen ein gewisser französischer Hauch, etwa wenn rauchende Trenchcoat-Träger eine Millionärsgattin in einem eleganten Citroën DS entführen. Über leere Autobahnen, noch ohne Lärmschutzwände, umstanden von Schwerindustrie.
Auftritt Schimanski
1981 ist dann vieles anders, Auftritt Horst Schimanski. Eine vermüllte Wohnung, vor den Fenstern ein nebliges Duisburg, als Frühstück reichen ihm zwei rohe Eier im Glas. Im Radio läuft »Leader of the Pack« von den »Shangri-Las«, dann raus auf die Straße, wo ein Mann seine Möbel aus dem Fenster wirft: »Hotte du Idiot! Hör auf mit der Scheiße!«. Der Ton war gesetzt – ein Ermittler in beiger M65-Feldjacke mit großer Fresse und großem Herzen, der gern mal seine Fäuste als Diskussionsverstärker einsetzt. Einer, der auf Dienstvorschriften pfeift, das genaue Gegenteil zum korrekten Kollegen Thanner. In einer Folge grüßt Felmy übrigens als Werbefigur von einer Plakatwand, vor der sich Schimanski die Schuhe zubindet. Das Duisburg, in dem sie ermitteln, wirkt ruinenhaft bis postapokalyptisch, eine Region im Niedergang. Ein eher ungünstiges Image, das die Stadtoberen verlässlich auf die Palme jagt und die Lokalpresse befeuert. Aber – dem Publikum gefällt es.
Die 90er Jahre sind im Vergleich dazu eher öde. Kein Wunder bei dem Vorgänger. Der WDR-Tatort zieht nach Düsseldorf, fortan ermittelt ein Team aus den Kommissaren Bernd Flemming (Bernd Lüttge), Miriam Koch (Roswitha Schreiner) und dem jungen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt). Wie Düsseldorf in den 90ern aussah, ist heute nur schwierig zu nachzuvollziehen, da die Bavaria-Film die Folgen in München dreht. Als Alibi schneidet man immerhin regelmäßig eine Fahr-Sequenz über eine der Rheinbrücken in die Filme. Solide Krimi-Kost ohne große Besonderheiten, die heute wie eine Brücke ins spätere Kölner Revier wirkt. Ballauf, der in Düsseldorf als jugendlicher Haudrauf ermittelt, wandert am Ende der letzten Folge nach Amerika aus.
Im ersten Fall aus Köln (1997) muss Ballauf nach einer Alkoholfahrt die USA wieder verlassen und wird Vorgesetzter von Kommissar Freddy Schenk (Dietmar Bär). Nach anfänglichem Geknurre findet sich das Team zusammen und wird zum dienstältesten Ermittler-Team des WDR. Der Dom ist oft und regelmäßig im Bild und dient als Premiumkulisse für die Imbissbude auf der Deutzer Rheinseite. Gemordet wird gleichermaßen in den Veedeln als auch in den Neubaugebieten; die Kranhäuser machen sich auch gut als Bildhintergrund. 2010 geht es für den offiziellen Kulturhauptstadt.2010-Krimi »Klassentreffen« nach Essen, wo nach der großen Party prompt ein ehemaliger Mitschüler Ballaufs tot im Hotelzimmer liegt, der natürlich zum Planungsteam der Kulturhauptstadt gehörte. Das Drehbuch und die Dialoge rascheln bedenklich, da man darin sämtliche Infos aus der Imagebroschüre unterbringen musste. Und auch die Autofahrten sind wüst geschnitten – so dreht Ballauf auf dem Weg von Köln zum Baldeneysee sinnfrei eine Ehrenrunde über die Kokerei Zollverein. Wenn schon Essen, dann sollte dort bitte auch etwas Industrie herumstehen.
Witze in der Dauerschleife – in Münster
Seit 2002 ist neben Köln auch Münster ein verlässlicher Krimi-Standort. Kommissar Thiel und Gerichtsmediziner Boerne kabbeln sich seit fast 40 Folgen durch diesen, beim Publikum sehr beliebten, Comedy-Tatort. Der wird aus Kostengründen zwar hauptsächlich in Köln und Umgebung gedreht, aber einige Panorama-Schüsse vom Aa-See oder dem Prinzipalmarkt sind immer drin. In der Folge »Gott ist auch nur ein Mensch« von 2017 dient eine »Internationale Kunstausstellung« als laue Witzvorlage, während die echten »Skulptur Projekte« im Hintergrund verzweifelt mit dem Zaunpfahl winken. Der Fall: Eine Clownskulptur (!) vor dem Rathaus des »Aktionskünstlers G.O.D.« (!) entpuppt sich als verkleidete Leiche.
Zuverlässig schlechte Laune in Dortmund
Während man in Münster abwechslungsarm witzelt, hat man in Dortmund zuverlässig schlechte Laune. Jörg Hartmanns Kommissar Peter Faber bekämpft mit Kommissarin Martina Bönisch und wechselnden Team die Verbrechen in der Westfalen-Metropole. Ab 2012 werden die Fälle angenehm horizontal erzählt, neben dem aktuellen Fall halten die psychisch-charakterliche Entwicklung Fabers und das Verhältnis untereinander einen durchgehenden, zusätzlichen Spannungsbogen. Insofern kann man Faber und Konsorten fortan bei der Charakter-Werdung aus Distanz und Nähe zuschauen. Ist eben alles nicht so einfach in Dortmund. Die Stadt selbst wird oft und gern gezeigt – U-Turm, Phoenix-See, Westfalenstadion, aber auch soziale Brennpunkte der Nordstadt. Showdowns finden häufig auf den Hochhausdächern der Innenstadt statt. Interessant wird es, wenn Gast-Regisseure ihr eigenes Stadt-Bild zeichnen. Etwa Dominik Graf, der im ersten Teil des Mafia-Zweiteilers »In der Familie« (2020) nur kurz über das Dortmunder U schwenkt, um sich fortan der realistisch-tristen Schönheit der lokalen Vorstadtstraßen und Autobahnauffahrten zu widmen.
In dem experimentellen Kammerspiel-Tatort »Das Team« (2020) fallen in NRW vier Kommissare aus unterschiedlichen Städten einer Mordserie anheim. In einem leeren Hotel wird auf Anordnung des Ministerpräsidenten Armin Laschet (Chefsache! Gastauftritt!) ein Ermittlungsteam gebildet. Dabei treffen Faber und Bönisch auf Thiels Kollegin Krusenstern aus Münster und auf bis dahin unerzählte Tatort-Kommissar*innen. Was zeigt, wie viel Potenzial in diesem Bundesland steckt, wenn die Kölner und Münsteraner Duos endlich einmal in den verdienten Ruhestand gehen und neue Kolleg*innen übernehmen. Das würde man schon gern sehen, wie der Burg-Schauspieler Nicholas Ofczarek als »Kommissar Franz Mitschowski« durch Aachen schreitet oder Ben Becker als »Kommissar Marcus Rettenbach« durch Oberhausen irrlichtert.
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