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Ohne Extrawürste
Wenn in Bochum vom »Kortländer« die Rede ist, dann leuchten die Augen von Alteingesessenen genauso wie von jungen, hippen Szenemenschen: Ein Streifzug durchs alternative Ausgehviertel.
Von 1879 bis 1913 betrieb Ferdinand Kortländer im Eckhaus am Rand der Innenstadt, wo Herner- und Dorstener Straße aufeinandertreffen, eine legendäre Gastwirtschaft. Später wurde sie von anderen übernommen und blieb unter dem Namen Kortländer eine feste Größe. Die einzige heute noch geöffnete Kneipe, die im Viertel eine Zeitlang zusammen mit ihr existiert hat, ist Paddy‘s Irish Pub, der Ende der 1970er-Jahre als erster irische Kneipenkultur im Ruhrgebiet etablierte – und alle Nachfolger zäh überlebte. Bis heute kann man im kleinen, urigen Laden originalgetreu Dart spielen, dazu ein frisch gezapftes Guinness genießen oder sich an der reichen Whiskey-Auswahl erfreuen.
Um den Kortländer, der heute einen Schönheitssalon beherbergt, und das Paddy’s hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch Kneipenkultur und Kreativarbeiter vieles verändert – bis zum vielfältigen, lebendigen Kreativviertel von heute mit Architekten, Designern, Werbe- und Marketingmenschen, einem Musikstudio, verschiedenen Kneipen und Cafés war es ein weiter Weg. Den ersten Versuch einer Re-Etablierung als Ausgehmeile unternahm der Gastronom Marc Tewes, der Anfang der 2000er-Jahre auf dem innerstädtischen Teil der Herner Straße gleich zwei coole Läden eröffnete: Das Kneipenrestaurant »Rauschen« in einem Traditionslokal hinter Buntglasfenstern und die Bar »London Tokyo Paris« mit großen Schaufenstern, Retromöbeln, DJs und Flaschenbier.
Auf das »London Tokyo Paris« folgte 2006 die »Goldkante« mit ähnlicher Ausrichtung – heute beherbergt das schöne Ladenlokal mit den golden umrahmten Fenstern das »Café Eden«. Die Retromöbel sind geblieben – und auch, dass der Laden von einem Verein betrieben wird. In ihm kommen von jung bis alt, von Studierenden bis zu Erwerbstätigen oder Erwerbslosen viele gesellschaftliche Schichten zusammen und auch mit seinem Angebot gibt er sich inklusiv: Vom Lesekreis über Spieleabende, »Deep Talk« bis zur Nähgruppe ist hier alles Mögliche zu finden.
Inklusiv – so könnte man das Treiben im Viertel, das heute »Kortland« oder »Kortländer Kiez“«genannt wird, generell beschreiben. Die Utopie einer Gesellschaft, die diverse kulturelle Einflüsse vereint, und die man dem Ruhrgebiet wegen seiner Arbeitsmigrationsgeschichte oft in besonderem Maße zuschreibt, wird hier Wirklichkeit. Auf dem Platz vor der alternativen Eisdiele »Kugelpudel« kommen sie alle zusammen: Junge Menschen, ob hip oder nicht, die alten Bewohner*innen, neu Zugezogenen aus dem arabischen Raum, Besucher*innen der türkischen oder arabischen Cafés oder Shisha-Bars um die Ecke. »Ich will dazu beitragen, einen alternativen Kiez zu entwickeln«, sagte »Kugelpudel«-Inhaberin Julia Bernecker zur Eröffnung vor acht Jahren. Schneller als gedacht hat sie das geschafft.
Vom Unverpacktladen zur Weinbar
»Es sind viele junge Menschen ins Viertel gezogen«, sagt Julia Bernecker heute. Von einer Bank vor ihrer Eisdiele schaut sie auf das Treiben auf Dorstener- und Herner Straße. Ein älterer Bewohner des Viertels, der selbst einen Garten und mehrere Kinder habe, kümmere sich um die Pflanzentöpfe auf dem Platz. Und das Ladenlokal des ersten Bochumer Unverpacktladens »Bioku« ein Stück weiter die Herner Straße runter habe sie vermittelt: »Ich hatte erst die Idee, dort selbst eine Lebensmittel-Kooperative zu eröffnen, aber dann habe ich das Projekt lieber in andere Hände gegeben.«
Wer vom Unverpacktladen »Bioku« stadteinwärts geht, kommt erstmal nur an neuen Auswüchsen des Kortländer Kiez vorbei: Im Ladenlokal direkt nebenan feilt Simon Jakob an der Ausstattung seiner neuen Weinbar: »Erstmal wird es hier nur deutsche Weine geben«, erklärt er sein besonderes Konzept. Und auch, was hinter dem Namen der Bar – »OA« – steckt, verrät er gern: »Das sind die fehlenden Vokale des benachbarten Cafés.« Das heißt »KRTLND« und hat nicht nur einen der besten Kaffees der Stadt und einen stets gut gelaunten, singenden Barista, sondern ist auch ein wichtiger Ort der Netzwerk-Pflege.
»Im Café KRTLND habe ich zum Beispiel die Akteure des Quartierszentrums KoFabrik kennengelernt und bin darüber an neue Aufträge gekommen«, erzählt Landschaftsarchitekt Sebastian Sowa. Er arbeitet direkt um die Ecke, in einem Ladenlokal an der Kanalstraße, wo auch Künstler ihre Ateliers und der Besitzer des »KRTLND«-Cafés Markus Schlichtherle ein in deutschen Pop-Kreisen berühmtes Tonstudio betreibt. »Sowatorini« nennt sich das an der Achse Bochum-Berlin operierende Landschaftsarchitektenbüro, weil einer der Partner von Sebastian Sowa Gianluca Torini heißt, der das Berliner Büro betreibt. In einem Hinterraum der Bochumer Abteilung von Sowatorini hat sich das ökologische Modelabel »Frau Misoke« niedergelassen und am großen Holztisch feilen auch Architektur-Studierende an ihren Modellen.
Sebastian Sowa, der deutschlandweit und noch darüber hinaus Projekte plant und Architektur-Preise gewinnt, ist überrascht davon, was in seiner direkten Nachbarschaft passiert: Vor der KoFabrik würde zum Beispiel bald eine verkehrsberuhigte Zone mit neuer Straßenoberfläche entstehen. »Die Stadt zeigt sich generell sehr aufgeschlossen, was auch bauliche Veränderungen im Viertel angeht.« In der Verwaltung ist man wahrscheinlich froh, dass der Kortländer Kiez sich ganz von selbst und ohne offizielle Bezeichnung und große Beförderung zum Kreativ-Quartier entwickelt – und hilft so gut man kann bei der Entwicklung mit.
Wirklich gewordener Traum aller modernen Stadtplaner muss ein Ort wie die oben bereits erwähnte KoFabrik sein: Sie ist ein erstaunliches Projekt in einem geschichtsträchtigen Gebäude an der Ecke der Straße »Am Kortländer«. Im alten Backsteinbau, der einstmals die Heintzmann-Gießerei beherbergte, in dem in den 1970er Jahren der Bochumer Theater-Intendant Peter Zadek die Außenspielstätte BO-Fabrik etablierte, der in den 1980er-Jahren besetzt war und zuletzt eine Anlaufstelle für Obdachlose, ist ein blühendes Nachbarschafts- und Co-Working-Zentrum entstanden.
In der Quartiershalle kommen hier alle zusammen: Werbetreibende, Betreiber*innen eines Studios für »nachhaltige Innovationen«, Künstler*innen, Grafikdesigner*innen, Videomacher*innen, Anbieter*innen von Sprachkursen, Café-Betreiber*innen, Yoga-Lehrende, und auch ein Sozialarbeiter für die Nachbarschaftspflege. »Wir wollen ein Ort für das Quartier sein, nicht nur schnöde Mieterinnen und Mieter von Gemeinschaftsbüros. Jede und jeder hier ist verpflichtet, Stunden für das Viertel zu leisten«, erklärt Geschäftsführer Henry Beierlorzer das Projekt, das unter anderem von der Montag Stiftung gefördert wurde, die gemeinnützige, urbane Räume unterstützt.
Bei der Versammlung der KoFabrikant*innen fällt irgendwann auch der Begriff »Klein Warschau«. So habe man das Viertel früher genannt, erinnert sich die Mitarbeiterin einer Werbeagentur. Hintergrund ist, dass viele der polnischen Arbeiter, die seit 1870 ins Ruhrgebiet strömten, hier sesshaft wurden, und Bochum zum ruhrpolnischen Zentrum machten. An der Straße Am Kortländer fanden sich unter anderem die Arbeiterbank Robotników, die Polnische Gewerkschaftsvereinigung Zjednoczenie Zawodowe Polskie und die Filiale der Handelsbank Kasa deposytowa. Diese Institutionen bestehen zwar nicht mehr, aber seit 1947 befindet sich im so genannten »Dom Polski« Am Kortländer 6 die Bundeszentrale des Bundes der Polen in Deutschland. Das Haus wird derzeit mit Mitteln des Bundes und der NRW-Stiftung saniert und soll die Geschäftsstelle der Dokumentationsstelle Porta Polonica beherbergen.
So mischen sich unter die Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, die abends an der Herner Straße zu Craft Beer, Tischtennis oder Underground-Kunstausstellungen in der Kneipe zusammenkommen, die einfach »Trinkhalle« heißt, auch welche mit polnisch klingenden Nachnamen. Vielleicht kommen einige gerade vom Friseur gegenüber – dem letzten erstaunliches Kiez-Phänomen, das hier kurz beleuchtet werden soll: In der Barbierstube Iskandar frisiert seit 2012 Ihab Iskandar. Zu seinen Kunden gehören berühmte Fußballstars von eigentlich nicht unbedingt befreundeten Clubs wie Schalke, Borussia Dortmund oder VfL Bochum genau wie der Rapper Capital Bra. Warum? »Ich kann es nicht genau sagen«, sagt Ihab Iskandar, »aber vielleicht merken sie einfach, wie sehr ich meine Arbeit liebe und dass hier jeder gleich behandelt wird. Die Promis feiern das: dass sie keine Extrawürste bekommen.«
Kugelpudel: Alternative Eiscremebar mit kreativen Sorten mit und ohne Milch, Kaffee, Kuchen, Waffeln und Snacks. Dorstener Straße 1, www.kugelpudel.com
Bioko: Unverpacktladen mit großer Auswahl auch an verpackten Bio-Waren und großem Raum für Workshops zum Beispiel zum Thema Upcycling, www.bioku.org
KoFabrik: Quartierszentrum mit Café, urbanem Garten, Yoga-Raum und Co-Workingspaces, www.kofabrik.de
Trinkhalle: Große Auswahl an Craft Beer, dazu gibt’s Tischtennis, Kicker und Kunstausstellungen zwischen Paletten-Möbeln. Herner Straße 8, www.facebook.com/trinkhalleruhrgebeat