Auch dies ist ein Heimatfilm, aber ohne falsche Seligkeiten. Der Ort heißt Stadtallendorf, liegt in Hessen, nicht weit entfernt von Marburg. Kein deutsches Märchen- und Wunderland. Nicht besonders typisch, nicht eben originell. Guter Durchschnitt. Und doch ein Utopia, trotz seiner Vergangenheit. 20.000 Einwohner, 70 Prozent von ihnen mit einer Migrationsgeschichte, die weit zurückreicht. In das bäuerliche Dorf wurden während der NS-Diktatur 15.000 Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge verbracht, um Sprengstoff herzustellen für den Endsieg. Arbeit brachte später die Eisen- und Süßwarenindustrie (»Ferrero Küsschen«), die auch eine Generation sogenannter Gastarbeiter herführte.
An der Georg Büchner-Gesamtschule, einem nicht mehr neuen Neubau, unterrichtet Dieter Bachmann die 6b. Auch in der Klasse sind die Hautfarben und Muttersprachen der Schülerinnen und Schüler gemischt, von Brasilien bis Bulgarien, von Südeuropa und Nordafrika bis Asien ist alles dabei. In diesem Schuljahr wird sich ihre Zukunft entscheiden, ob sie später einen Hauptschul-, Real- oder Gymnasialabschluss haben werden. Lehrer, Kinder und den Unterricht haben die Regisseurin Maria Speth und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider ein halbes Schuljahr lang begleitet.
Bachmann steht kurz vor der Pensionierung, aber im Kopf ist er jung; er hat sich nicht eingerichtet in Routinen, Bequemlichkeit und Altersmüdigkeit. Lehrer zu werden, war damals für ihn eine sichere Bank, um regelmäßig Geld zu haben. Für das Modell, die Institution Schule und ihr Benotungssystem hat er wenig übrig. Noten – wenn, dann lieber im musikalischen Sinn; neben der Tafel hängt Bachmanns Gitarre. Für ihn ein Instrument, um Lust und Laune wiederherzustellen, wenn dicke Luft herrscht.
Auf dem Kopf trägt Bachmann obligatorisch eine bunt gehäkelte Wollkappe, wie eine Hermann-Löns-Figur, die es als Aussteiger nach Gomera verschlagen hat, und weiter unten Shirts, die keinem Stil-Check standhalten. Preußisches Erziehungsideal und antiautoritärer Kinderladen-Gestus in Kombination. Das »Guten Morgen, Herr Bachmann« zur Begrüßung soll schon, wenn nicht zackig, doch aufgeweckt klingen. Wer Schlaf nachzuholen hat, darf dies, wie Ferhan, auch mal während des 45-Minuten-Takts tun. Oder alle gemeinsam wiederholen eine Ruheübung wie ein Ritual.
Fröhliche Wissenschaft!
Das Klassenzimmer ist bei Bachmann kein Exerzierplatz, sondern Wärmestube und Ort, an dem sich Batterien aufladen können und das Gemeinschaftsgefühl Raum bekommt, das sich nur mit Respekt füreinander entwickelt – im Konkreten. Bachmann sieht keine Problemfälle vor sich, sondern individuelle Begabungen. Aus Kenntnis wächst Erkenntnis. Denn der Pauker mit der Gitarre erwartet schon Leistung und verkörpert Bestimmtheit und Autorität, aber er mildert deren Druck. Fröhliche Wissenschaft! Und weiße Pädagogik, wie sie im Buche steht.
Die gleiche freisinnige Methode eignet auch Speths Film, der nichts beweisen will, nichts besser zu wissen und zu behaupten vorgibt und keine Noten verteilt, der große Augen macht beim Zuschauen, alle Zeit der Welt zu haben scheint, um zuzuhören, und sprunghaft ist wie das, was er beobachtet. Er findet in diesem Fliegenden Klassenzimmer die Welt im Kleinen – ein theatrum mundi. Hier wird endlich mal nicht für die Schule gelernt, sondern fürs Leben, richtiger: fürs Menschsein. Für Anastasia, Ilknur, Rabia, Regina, Stefi, Tim und die anderen, die wir mit ihren Eigenheiten, Schwierigkeiten und Stärken lieb gewinnen, wird es sehr viel leichter, angstfrei zu sein, wenn ein Herr Bachmann dabei hilft.
»Herr Bachmann und seine Klasse«, Regie: Maria Speth, D 2021, 217 Min., Start: 16. September