Yasemin Utku ist Professorin für Städtebau und Planungspraxis. Der Wandel in den Innenstädten, sagt die Architektin, ist immer auch eine Chance.
Sie liebt das Ruhrgebiet: Wenn Yasemin Utku auf die Entwicklung der Innenstädte blickt, dann nicht nur fachlich, sondern auch privat. Seit langem lebt die Professorin für Städtebau und Planungspraxis in Bochum. Ein Gespräch mit der Architektin in der Bochumer Innenstadt über umgenutzte Kirchen, das Engagement von Bürger*innen und die Zukunft des Homeoffice.
kultur.west: Frau Utku, wie sehen Sie die Innenstadtsituation in Deutschland. Was sind die Probleme, gibt es überhaupt welche?
UTKU: Innenstadt wird zuallererst mit Einkaufen assoziiert und da muss man ganz klar sagen: Da gibt es einen Strukturwandel. Beim Einkaufen wird das besonders deutlich, man kann aber auch bei der Vermarktung von Büroflächen sehen, dass sich da gerade eine Menge verändert.
kultur.west: Sind diese Veränderungen neu?
UTKU: Das ist eine Entwicklung, die schon etliche Jahre währt, also kein neues Phänomen, aber die aktuelle Situation hat es noch einmal klarer und deutlicher zutage treten lassen.
kultur.west: Hat Corona die Innenstadt zerstört?
UTKU: Ich würde es positiver formulieren: Corona hat gezeigt, was die Anforderungen an die Innenstädte sind. Dass man eine ganz andere Belegung von öffentlichem Raum braucht und es die Möglichkeit eines niedrigschwelligen Zusammenkommens in den Innenstädten geben muss, die vielfach verloren gegangen ist, weil viele Städte sich auf die Gestaltung von zwei, drei zentralen Plätzen konzentriert haben.
kultur.west: Also kein Abgesang auf die Innenstädte?
UTKU: Nein, auf keine Fall. Gerade Corona hat eben auch gezeigt, wo die Optionen liegen, um die Innenstädte wieder nach vorne zu bringen und ihnen auch in Zukunft Attraktivität zu verleihen.
kultur.west: Entstehen solche Räume des niedrigschwelligen Zusammenkommens schon?
UTKU: Ich sehe schon, dass es eine ganze Menge Initiativen und Aktivitäten gibt, die einfach irgendwo aufpoppen, sich Räume aneignen und nutzen. Da ist auch vieles richtungsweisend.
kultur.west: Kommen wir konkret auf die Innenstädte im Ruhrgebiet – wie sieht es da im Vergleich zum Rest Deutschlands aus?
UTKU: Ich würde sagen, in der Einordnung sticht das Ruhrgebiet nicht besonders heraus. Es gibt keine spezifischen Probleme, die einen grundsätzlichen Unterschied zu anderen Städten darstellen, wobei man dem Ruhrgebiet ja immer ein bisschen Jammern unterstellt.
kultur.west: Liegt diese Diversität vielleicht auch an der Struktur des Ruhrgebiets?
UTKU: Ich spreche vom Ruhrgebiet immer gerne als »eine Ansammlung gallischer Dörfer«. Die Dezentralität des Ruhrgebiets führt dazu, dass es viele einzelne Zentren gibt und eben nicht nur die einkaufsorientierte Innenstadt. Das ist Fluch und Segen zugleich.
kultur.west: Warum?
UTKU: Einerseits spricht man darüber, dass es in diesen Subzentren überhaupt nichts mehr gibt, andererseits sind in diesen Stadtteilen genau die Räume vorhanden, die man für neue gemeinschaftliche Strategien nutzen und entwickeln kann. Darin liegt eine große Chance – auch für das kleinteilige Experiment mit Konzepten.
kultur.west: Wenn Sie über Möglichkeiten des niedrigschwelligen Zusammenkommens im öffentlichen Raum sprechen, klingt das, als könnten die Städte da nicht unbedingt die Initiativ-Kraft sein.
UTKU: Die Stadt sollte, darf, muss nicht immer der Impulsgeber oder Motor dafür sein. Aber im günstigsten Fall ist die Stadt Ermöglicherin. Ich glaube, dass es viel Engagement und Interesse von Bürger*innen gibt, etwas in den Städten zu bewegen. Menschen, die Räume und Orte suchen, um etwas zu machen. Wenn die Städte das unterstützen und anbieten, dann machen sie schon einen super Job.
kultur.west: Sind die Städte also nicht besonders innovativ?
UTKU: Es ist eine falsche Erwartungshaltung, dass die Innovation immer aus den Verwaltungen kommen muss. Das ist oft gar nicht sinnvoll und das meine ich gar nicht böse. Das ist einfach nicht ihre Aufgabe, aber es wäre toll, wenn sich die Kommunen auf mehr Experiment, aufs Ausprobieren einlassen würden. Auch da ist das Ruhrgebiet aufgrund seiner Struktur ganz besonders geeignet.
kultur.west: Gibt es Beispiele?
UTKU: In der Umnutzung von Kirchen oder in der Entwicklung von Einzelstandorten, aus denen sich wieder Kristallisationen ergeben.
kultur.west: Wer sind die Akteure bei diesen Entwicklungen?
UTKU: Das sind sowohl Bürger*innen als auch Künstler*innen, oft gemeinsam. Es gibt eine Menge Interessenvertretungen, die nur ein Thema im Blick haben. Zum Beispiel die Initiative »Essbare Stadt«, die Orte schaffen will, wo Gemüse und Obst in der Stadt gepflanzt werden. Damit kann man natürlich nicht alle mit Lebensmitteln versorgen, aber es ist ein sozialer und kultureller Aspekt damit verbunden, der nicht zu unterschätzen ist. Das ist für mich ein genauso wichtiger Ansatz wie die Künstlergruppe, die Räume für Ateliers oder Ausstellungen braucht oder ein Festival organisieren möchte.
kultur.west: Da geht es jetzt vor allem um die Nachnutzung leerstehender Geschäftsflächen und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes. Was ist mit den Büroflächen?
UTKU: Das Bürothema steht noch nicht so richtig im Fokus, wird aber in Zukunft sehr wichtig werden. Genauso wie die Frage, wie die Innenstadt wieder zum Wohnort werden kann. Da gehört mehr dazu: Da reicht es nicht behelfsmäßig einen Kindergarten in der dritten Etage einzurichten. Da braucht es soziale Orte mit unterschiedlichen Qualitäten. Es muss grundsätzliche Versorgung geben. Ein engmaschiges Netz von Räumen, die das Zusammenleben in der Innenstadt ermöglichen.
kultur.west: Im Fall von Büros – werden die jetzt überflüssig, weil alle nur noch im Homeoffice arbeiten?
UTKU: Nein, das glaube ich auf keinen Fall. Für viele Firmen bleibt es wichtig, dass die Mitarbeiter*innen in die Büros kommen, weil es mit Identifikation zu tun hat. Aber es wird trotzdem so sein, dass mehr Menschen von zu Hause arbeiten wollen und die Idee, dass jeder sein eigenes Büro hat, in das er jeden Tag geht, wird wohl verschwinden. Es werden also Flächen reduziert werden, aber das Büro wird nicht völlig verschwinden. Das ist genauso wie beim Einzelhandel. Es gibt zu viel Fläche, aber das stationäre Geschäft wird natürlich nicht völlig verschwinden.
kultur.west: Und was ist mit diesen Flächen dann möglich?
UTKU: Büros, die häufig in Großstrukturen angesiedelt sind, können natürlich relativ gut in Wohnraum umgewandelt werden. Das sollte zuerst untersucht werden, bevor es an Wohnungsneubau geht. Die Geschäftsflächen sind dagegen nicht für die Wohnnutzung geeignet, dafür braucht es andere Lösungen.
kultur.west: Was ist mit den Einzelhandelsflächen möglich?
UTKU: Da sehe ich eher Lösungen, die auf das Gemeinwohl hin orientiert sind. Man kann tolle Sachen aus Einkaufspassagen machen. Da können großartige Räume für gemeinschaftliche Nutzungen entstehen. Mit der Idee des »dritten Ortes«, wie man es aus skandinavischen Ländern kennt.
kultur.west: Was sind »dritte Orte« eigentlich genau?
UTKU: Ganz kurz gesagt ist der erste Raum die Sphäre des Privaten und Familiären, der zweite Raum ist definiert durch Arbeit, der dritte Raum sind Orte, an denen soziale Interaktion in teilorganisierter Form ermöglicht wird. Traditionell würden dazu etwa auch Kirchen oder Sportvereine, Kulturstätten oder Bibliotheken gehören.
kultur.west: Und wie kommt da nun die Shopping-Passage ins Spiel?
UTKU: Da können ganz großartige Orte daraus werden. Ich kann mir einen Bereich vorstellen, wo Nähmaschinen stehen, die gemeinschaftlich genutzt werden, oder Werkstätten, irgendwo spielt man Schach und dazwischen treffen sich Studierende in Arbeitsräumen oder Schüler*innen machen gemeinsam Schulaufgaben. Das alles in offenen Strukturen, wo in den Bereichen dazwischen all diese Menschen zusammentreffen können.
kultur.west: Gibt es für solche »dritten Orte« Vorbilder?
UTKU: Ein Idealbild ist sicherlich die Oodi Bibliothek von ALA Architects in Helsinki.
kultur.west: Die ist allerdings ein komplett durchgeplanter Neubau.
UTKU: Mit einem gewissen Maß an Offensivität ist so ein Konzept aber auch in bestehenden Strukturen umsetzbar. Da würde ich mir vor allem Initiative aus dem künstlerischen und kulturellen Bereich wünschen, denn da gibt es die Menschen, die am ehesten fähig sind, Räume neu zu denken und ihnen eine andere Bedeutung zu geben. Eher als mit einem klassisch planerischen Blick, der vielleicht nicht immer offen genug ist.
kultur.west: Und welche Rolle spielt bei all dem der schwammige Begriff der »Schönheit« der Stadt, der von verschiedenen Seiten immer mal wieder ins Spiel gebracht wird?
UTKU: Stadtentwicklung ist ein dynamischer Prozess. Es gibt gute und weniger gute Architektur in jeder Zeit. Das ist aber gar nicht der vorrangige Punkt. Für die Nutzung der Innenstädte sind zuallererst die Erdgeschosse elementar. Was darüber kommt, spielt in der Wahrnehmung der Stadt eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist die Verknüpfung des Erdgeschosses mit dem öffentlichen Raum.
kultur.west: Aber viele Menschen würden sich historische Fassaden in den Innenstädten wünschen.
UTKU: Das ist richtig, aber wenn man da mal nachfragt, wie die Fassaden in der einen oder anderen Straße eigentlich genau aussehen, dann ist das im Detail oft gar nicht bewusst, weil eben der Blick gar nicht über das Erdgeschoss hinausgeht.
kultur.west: Die klassische Blockrandbebauung mit Lochfassaden und ein bisschen historisierendem Dekor rettet also die Innenstädte nicht?
UTKU: Das wäre mir viel zu eindimensional – die steinerne Stadt in Blockrand. Auch in den Zwischenräumen von Zeilenbebauung kann städtisches Leben passieren. Es ist halt nur in diesen Fällen auch oft so, dass in den Erdgeschossen der Zeilen nichts passiert. Da muss sich etwas ändern. Da gilt es, sich den Bestand genau anzuschauen und einfach nachzuschärfen. Das sind aber alles Schwierigkeiten, die durch ein kluges Weiterbauen zu lösen sind. Umgekehrt nutzt der Hof innerhalb der Blockrandbebauung überhaupt nichts, wenn er nur zum Parken benutzt wird, wie es ja meistens leider der Fall ist.
Yasemin Utku
Die Stadtplanerin und Architektin Yasemin Utku lebt in Bochum und beschäftigt sich in vielerlei Form mit der Entwicklung von Stadt. Als Mitbegründerin der »Ruhrmoderne« engagiert sie sich für den Erhalt und die Weiternutzung der Architektur der Nachkriegsmoderne in der Region. Mit ihrem Büro »StadtGUUT», das sie gemeinsam mit dem Stadtplaner Stephan Gudewer gründete, beschäftigt sie sich mit städtebaulicher Denkmalpflege genauso wie mit der Stadterneuerung, Stadtforschung und Stadtentwicklung. Seit 2018 ist Utku darüber hinaus Professorin für Städtebau und Planungspraxis im Fachbereich Architektur der TH Köln. Bevor sie in Dortmund Architektur und Raumplanung studierte, arbeitete sie als gelernte Floristin in Köln.