Wenn es heißt: »Bochum verpflichtet einen ausgebildeten Statistiker«, würde man vermutlich als erstes bei der Pressestelle des Bauamtes oder der Einwohnermeldestelle nachfragen, wer denn dieser neue Statistiker sei. Dort gäbe man sich wahrscheinlich ahnungslos. Würde man sich jedoch vertrauensvoll an das Kulturamt wenden, bekäme man mit großer Wahrscheinlichkeit folgende Antwort: »Unser neuer Mitarbeiter heißt Tung-Chieh Chuang. Wir freuen uns, ihn zur nächsten Spielzeit als neuen Chefdirigenten und Intendanten der Bochumer Symphoniker begrüßen zu dürfen.«
Tatsächlich. Der in Taiwan geborene Chuang, Sohn eines Professors für Horn und einer Professorin für Cello, hat zunächst in den USA angewandte Statistik studiert. Doch dann schlugen die Musiker-Gene durch, Chuang entschied sich für ein Dirigierstudium, das er in Weimar verfeinerte und mit dem Konzertexamen abschloss – gerade Weimar gilt für angehende Dirigenten als Premium-Adresse. Natürlich hat Chuang als Kind mit dem Musizieren begonnen, »ich habe Horn und Klavier gelernt«, erzählt er im Video-Interview. »Schon früh habe ich geglaubt, das ganze Repertoire für diese Instrumente gut zu kennen.« Aber? »Dann hörte ich eine Aufnahme der ersten Sinfonie von Johannes Brahms mit dem Dirigenten Bernard Haitink. Es war ein totaler Schock. Ich dachte, ich könne meinen Ohren nicht mehr trauen.« Letztlich eine Initialzündung. Natürlich möchte er rückblickend nicht behaupten, dies sei der Moment gewesen, in dem er beschlossen habe, Dirigent zu werden – aber ein Türöffner in diese Richtung war es dann doch.
Das Berufsbild des Dirigenten sieht Tung-Chieh Chuang relativ pragmatisch, auch wenn er darum weiß, dass von den Menschen am Pult oft eine außergewöhnliche Faszination, eine Aura ausgeht, die sich schwer in Worte kleiden lässt. Die Persönlichkeit eines Dirigenten zeigt sich für ihn darin, »dass jedes Konzert anders ist, dass etwas nie genau gleich klingt. Darin liegt eine der Schönheiten der Musik, und die Qualität eines Orchesters zeigt sich auch darin, wie ich meine persönliche Sicht auf ein Stück den Menschen vermitteln kann.« Chuang vertritt klare Ansichten. Seinen Probenstil beschreibt er als »variabel«. »Ich kann eine klassische Sinfonie von Haydn und Mozart nicht so proben wie ein großes romantisches Werk. Im ersteren Fall geht es mehr um Struktur und Phrasierung, um Harmonie, Rhythmus – im zweiten sind erklärende Bilder ungleich hilfreicher. Allerdings hoffe ich, ein Dirigent zu sein, der nicht zu viel spricht.« Soll heißen: Aus Respekt vor den Orchestermitgliedern möchte er nicht alles vorgeben, sondern Dinge sich entwickeln lassen.
In Weimar war Chuang unter 17 Studenten der einzige Aufbaustudent. Dort hat er die Chancen entdeckt, langsam etwas zu entwickeln, nichts zu überstürzen. Ein solches Langfrist-Denken bei einem sich immer schneller drehenden Klassik-Karussell ist heute nicht oft der Normalfall. Auch als ihn eine der Top-Konzertagenturen unter Vertrag nimmt, steigt ihm das nicht zu Kopf. Insofern passt es ins Bild, wenn sich der noch nicht 40-Jährige – Familienvater, Wahl-Berliner – nun erst einmal eine feste Basis gesucht hat. Chaung selbst spricht von »Liebe auf den ersten Blick«. In Bochum wollte man ihn, das war schnell klar, als Nachfolger von Steven Sloane, der Bochums musikalische Geschicke seit mehr als einem Vierteljahrhundert entscheidend geprägt hat. »Es fühlt sich sehr gut an, ich spüre eine Frische und große Offenheit – nicht nur beim Orchester, auch beim Publikum.« Chuang erinnert sich an eine Aufführung von Tschaikowskys Fünfter, als die Zuhörer im Saal nach einem der Sätze spontan anfingen, zu applaudieren – vor Begeisterung.
Als eines der wichtigsten Ziele nennt Tung-Chieh Chuang die Profilierung eines eigenen Klangs. Als besonderes Charakteristikum der Bochumer betrachtet er die Fähigkeit zu einer »intimen Klanggebung.« Außerdem: die breite Palette an Farben, »beides begünstigt durch den neuen Konzertsaal«. Wie genau sein Weg aussehen soll, verrät er nicht, nur so viel: anfangs in möglichst viele Richtungen experimentieren, als Basis dienen Haydn und Mozart. »Je genauer man sich kennenlernt, umso konkreter lässt sich sagen, welche Richtung wir künftig intensiver einschlagen wollen.«
Wenn Tung-Chieh Chuang seine Ideen ausbreitet, wirkt das geerdet und gefestigt, reflektiert und mit Überzeugung. Wenn er vor ein Orchester tritt, sind es klare Zeichen, die er gibt. Er ist in seinen Gesten kein Schäumer, kein emphatischer Ruderer, dafür empfindsam und dosiert. Das Bochumer Orchester steht ab Sommer vor einer Zäsur. Vielleicht wird es gar nicht lange dauern, bis man auch im kommunalen Einwohnermeldeamt weiß, wer der neue Statistiker ist…