Street Dance ist längst keine Hinterhof-Angelegenheit mehr. Hip-Hop, Breakdance, Popping, Locking und vor allem Krumping finden nicht mehr nur auf Battles für Eingeweihte statt. Die Stile des Urbanen Tanzes sind auf den Bühnen angekommen. Wie gehen Choreograf*innen mit der Energie und Anarchie der Straße um? Was fasziniert sie an der radikal anderen Bewegungssprache? Und welche Impulse können davon für den zeitgenössischen Tanz ausgehen? Ein Streifzug durch die Szene.
Vier schwarz gekleidete Körper liegen auf dem strahlend weißen Tanzboden. Die Brustkörbe heben und senken sich – atmen. Dann wird daraus ein ruckartiges Aufbäumen, ein Hochzucken des Brustkorbs. Als würde etwas aus dem Rippengefängnis ausbrechen wollen. Es ist der Anfang des Stückes »Vis motrix« der Bonner Compagnie Cocoondance. Diese so ganz eigenartige Bewegung ist der Ausgangspunkt, von dem aus Choreografin Raffaële Giovanola das gesamte Stück entwickelt. Im Krumping heißen diese Bewegungen »Breast Pops« und gehört zum Basis-Bewegungsvokabular. Und aus diesem Stil des Urban Dance kommt sie auch. Am Beginn der Arbeit an »Vis Motrix« stand die Kollaboration mit Menschen aus der Krump-Szene. »Begegnungen« nennt Raffaële Giovanola diese Herangehensweise.
Zum ersten Mal hatte die Choreografin das Prinzip 2016 erprobt, damals mit Parkourläufern, die ihren ganz eigenen Weg durch den urbanen oder natürlichen Raum bestimmen – auf eine andere Weise als von Architektur und Kultur vorgegeben. Das Ergebnis war das Stück »Momentum«.
»Wir versuchen nicht die Stile zu imitieren, sondern wollen diese für uns fremden Körperkonzepte verstehen, analytisch auseinandernehmen und dann für den zeitgenössischen Tanz adaptieren«, sagt Giovanola. So stehen dann bei den Produktionen von Cocoondance auch keine Breakdancer, Krumper oder Parkourläufer auf der Bühne, sondern zeitgenössisch ausgebildete Tänzer*innen.
Zuletzt zeigte Cocoondance »Hybridity«, das auf einer Begegnung mit dem Thai-Boxen basiert und diese Einflüsse mit Elementen des klassischen Balletts zusammenbringt. Wie in allen Fällen waren auch hier die Anleihen nur noch in Spuren – und nur, wenn man vorher bereits davon wusste – zu entdecken. Für Giovanola geht es in diesen Bewegungsrecherchen darum, das Vokabular zu erweitern. »Nicht-humane« oder »trans-humane« Bewegungen will sie in ihrer Arbeit entdecken.
Krump ist einer der neuesten Stile des Street Dance. Und er hinterlässt im gesamten Tanzbereich am schnellsten seine Spuren. Auch Techniken wie Popping und Locking spielen heute im zeitgenössischen Tanz eine Rolle, aber so schnell wie Krump haben sie den Weg von der Straße auf die Bühne nicht zurück gelegt.
»Ich sehe gar keine riesigen Unterschiede zwischen Krump und zeitgenössischem Tanz«, ist Kwame Osei überzeugt. Unter der Choreografie von Malou Airaudo – langjährige Dozentin für modernen Tanz an der Folkwang Universität, legendäres »Opfer« in Pina Bauschs »Sacre« und nun künstlerische Leiterin der Compagnie »Renegade« – tanzte Osei gerade im Stück »Drang«. Der Krumper fasst es so zusammen: »Es geht bei beidem um den Ausdruck von Gefühlen. Am Ende des Tages sprechen wir dieselbe Sprache.« Damit gibt er einen Hinweis, woher das große Interesse des zeitgenössischen Tanzes an Krumping kommen könnte: »Krump ist ein Freestyle-Tanz, bei dem es darum geht, das auszudrücken, was man gerade fühlt. Für Krumper ist alles, was mit starken Gefühlen zu tun hat, einfach.« Die Direktheit im Ausdruck, das Unmittelbare, manchmal auch brutal und gefährlich anmutende im Krumping übt eine zwingende Faszination aus, die dem zeitgenössischen Tanz neue Impulse geben kann.
Aber widersetzt sich der Freestyle-Gedanke nicht der festgelegten Choreografie? »Malou Airaudo hat uns sehr viel Freiheit gelassen, mit Improvisationen zu arbeiten. Sie ist in ihrer Arbeit extrem instinktiv und entdeckt mit sicherem Blick, was wertvoll ist«, sagt Osei. Und dann sei da noch ihre enorme Leidenschaft für den Tanz. Da treffen sich Krumper und die Grand Dame des modernen Tanzes. Mit der gemeinsamen Leidenschaft, glaubt Kwame Osei, könne auch die Zusammenarbeit für beide Seiten sehr wichtig sein. »Je mehr wir mit dem zeitgenössischen Tanz zusammen arbeiten, um so größer ist die Chance, dass etwas ganz Neues dabei heraus kommt. Ich weiß nicht was das sein wird. Aber es kann etwas wirklich krasses werden.«
Joana Kern hat bei Malou Airaudo auf der Folkwang Universität der Künste in Essen modernen Tanz studiert. Davor war die 28-Jährige in der Hip-Hop-Szene aktiv. Jetzt ist sie dahin zurückgekehrt. Gemeinsam mit Sonja Reischl und Wenta Ghebrehiwet ist sie das Urban Dance Kollektiv »FeminineX«. Als eines von zwei Ensembles gerade vom Kultursekretariat NRW mit dem »Sprungbrett«-Stipendium ausgezeichnet. Das Ergebnis ihrer Recherche haben die drei Street-Dancerinnen erst im Mai beim Festival »Tanz NRW« gezeigt.
»Sprungbrett war super für uns«, sagt Reischl, »weil die Recherche ergebnisoffen war. Wir sind nicht rangegangen und haben gesagt: Wir machen jetzt Women Empowerment.« Das habe sich dann erst im Prozess ergeben. Aus der Reflexion über die Street-Dance-Szene und die eigenen Erfahrungen darin. Warum gibt es im Tanz zwar viele aktive Frauen, aber nicht in der ersten Reihe? Liegt das auch an den Frauen selbst, die sich nicht so darstellen können oder wollen wie die Männer? Wie können Frauen dieses andere Agieren zu ihrem Vorteil machen?
Sonja Reischl ist 31 Jahre alt und seit 15 Jahre Teil der Hip-Hop-Szene. Sie hat sich durch alle Stile gearbeitet, auch aus Neugier Kurse in klassischem Ballett und Jazz-Dance belegt. Heute unterrichtet sie am Tanzhaus NRW im Jugendprogramm »Take Off« und in Ratingen und Wuppertal. Noch mehr Erfahrung, gerade in der Battle-Szene, bringt die 33-jährige Wenta Ghebrehiwet mit. »Ich verpasse nie etwas, wenn ich einem Battle zuschaue, aber ich ertappe mich dann dabei, dass ich die Namen der Frauen, die mich beeindruckt haben, viel schneller vergesse, als die der Männer.« Ghebrehiwet ist die Krumperin bei FeminineX, unter dem Namen »GirlTrouble« ist sie Teil der Crew »TroubleFam«. »Die Frauen versuchen in Battles oft, das zu können, was die Männer machen. Das funktioniert aber rein körperlich nicht. Wir sollten nicht versuchen, uns in etwas zu pressen, was wir gar nicht sind. Vielmehr müssen wir Frauen lernen, unseren eigenen Stärken nachzugehen.« Während Männer extrem risikofreudig und vor allem mit Kraft und Technik ans Krumping heran gingen, seien Frauen in der Bewegung weicher und mehr am Groove orientiert. Damit kommen sie auch zu einem individuelleren Ausdruck. Und nicht zuletzt: »Frauen suchen im Battle nicht zu allererst den Vergleich und Schlagabtausch, sondern viel mehr den Austausch und das Voneinanderlernen.«
In ihrer Video-Arbeit für das Festival ließen FeminineX viel von diesen Überlegungen einfließen. Neben dem Tanz, der auf der Straße beginnt, dann wörtlich durch ein Fenster in ein Nebengebäude von PACT Zollverein klettert und sich dort fortsetzt, geben Off-Texte Einblicke in die Position der Frau in der Street-Dance-Szene. Das funktioniert vor allem deshalb sehr gut, weil es immer durch die persönlichen Erfahrungen geerdet bleibt. »Vor allem wollten wir etwas machen, das Menschen berührt«, sagt Joana Kern. Auch Menschen, die bisher gar nichts mit Street oder Urbanem Tanz zu tun hatten? »Wenn es berührt, hoffe ich, dass es egal ist, aus welcher Bubble die Zuschauer*innen kommen.« Im Arbeitsprozess sei es gar nicht Ziel gewesen, explizit für die urbane Szene etwas zu machen, ergänzt Ghebrehiwet. »Uns wurde erst im Laufe der Recherche bewusst, dass es wichtig für die Szene sein könnte.« Eine Tür für die Frauen im urbanen Tanz öffnen, das wäre schon ein Erfolg. Den drei Frauen von FeminineX steht die Tür zu den Bühnen schon ganz weit offen.
9. Juli 2021: Cocoondance bringt »Momentum« Open-Air vor dem Ringlokschuppen in Mülheim auf die Bühne, www.ringlokschuppen.ruhr