Das Internationale FrauenFilmFestival Dortmund, lagebedingt in den Juni verschoben, hat sich auch sonst neu aufgestellt. Die sonstige Aufteilung in zwei Festival-Städte (alternative Adresse: Köln), wird aufgehoben. Zwei neue Sektionen – »Spot on, NRW!« und »IFFF packt aus« mit einem Griff ins hauseigene Archiv aus 30 Jahren Festivalgeschichte – erweitern das Programm, dessen Internationaler Spielfilm-Wettbewerb im Zentrum verbleibt. Eine Auswahl aus dem Festival 2021, das vom 15. bis 20. Juni rund 100 Regiearbeiten von Frauen aus dem In- und Ausland online präsentiert.
Das neue Troja
Quo vadis, Aida? von Jamila Zbanić
Im Johannes-Evangelium, Kapitel 13, fragt Petrus: »Herr, wo gehst du hin?«. Jesus antwortet: »Wo ich hingehe, kannst du mir diesmal nicht folgen.« Das sprichwörtliche »Quo vadis« nimmt Jamila Zbanić als Titel ihres Films auf. Bosnien, 1995. Srebrenica vor dem Angriff. Die UN-Truppen stellen ein Ultimatum, beschwichtigen, geben Versprechungen. »Ich bin nur ein Klavierspieler« – mit anderen Worten: Ich habe nichts zu entscheiden – sagt einer der internationalen Offiziere entschuldigend zu den Bürger-Abgeordneten der Stadt, darunter als einzige Frau die Dolmetscherin Aida (Jasna Durićić), die für das niederländische Blauhelm-Kommando arbeitet und vergebens versucht, ihren Mann und ihre Söhne und überhaupt die muslimische Bevölkerung vor dem bosnisch-serbischen Angriff und Massaker unter General Mladić zu retten. 25 Jahre danach kehrt Aida in ihre frühere, von einer anderen Familie bezogene Wohnung zurück. Ein Bagger gräbt Skelette aus, die Angehörige anhand von Utensilien zu identifizieren versuchen. Auch ohne dass »Quo vadis, Aida?« es dezidiert ausspielt, nimmt er ein Muster und Motiv tragischen Geschehens seit Antigone und den Troerinnen auf: Frauen gegen männliche Dominanz. Die sichere UN-Basis bleibt den Menschen verschlossen, ihre Evakuierung eine Lüge. Die UN-Truppen greifen nicht ein. Der Name Srebrenica ist zum Mahnmal von Massenmord, Nationalismus, Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit geworden: das neue Troja. Die eindringliche, nervenerschütternde Koproduktion von acht Ländern, die Herzenspanik und Verzweiflung, Wut und Mut, Überforderung wie auch auf der Gegenseite planvolle Ausrottungsmethodik in den Blick nimmt, ist es nun auch. (Internationaler Wettbewerb)
Das Ende der Unschuld
»Las Mil y Una (One in a Thousand)« von Clarisa Navas
Als im vergangenen März der große französische Regisseur Bertrand Tavernier starb, stand über einigen Nachrufen der Titel eines seiner Filme. »Das Leben und nichts anderes« – das war sein Thema und seine Kunst. »Las Mil y Una« funktioniert nach dieser Methode. Argentinien, wo es nicht schön ist. So sähe heute vermutlich eine existentialistische Betrachtung von Antonioni und dem frühen Fellini der »Müßiggänger« aus, die sie vor 60, 70 Jahren drehten. Iris und ihre Cousins Dario und Rocio streunen umher, wenn sie nicht in der beengten und ärmlichen elterlichen Siedlungswohnung, vor der Webcam und im Internet rumhängen. So wie die Jugendlichen durch Tage und Nächte driften, tun sie es auch bei ihren peripheren sexuellen Exkursionen beiderlei oder dreierlei Geschlechts und sind da nicht schüchtern, wobei Iris, die von der Schule geflogen ist, Sehnsucht nach etwas anderem verspürt: »old fashioned« nennt ihr Cousin die 17-Jährige, »Angel« die selbstbewusste und selbständige Renata, in die sich Iris scheu verliebt. Die Liebe ist ihnen ein Rätsel, das sich durch erotisiertes Sprechen und Handeln kaum löst. Coming-of-Age und Coming-out sind in der semi-dokumentarischen Bestandsaufnahme einer Zwischen-Generation und des gewaltsamen Endes der Unschuld ein- und dasselbe. (Internationaler Wettbewerb)
Wie neugeboren
»Limiar / Threshold« von Coraci Ruiz
Nicht nur Genres sind häufig nicht strikt zu trennen. Das meint für das IFFF, dass sich experimenteller Film und queer cinema verbinden können wie in »Limiar« aus Brasilien. Er dokumentiert eine autobiografische Spurensuche – gewissermaßen eine andere Art der Vererbungslehre – und Selbstbestimmung in Gesprächen, Bildern, Erinnerungen, durch die ein junger Mensch beeindruckend nachdenklich reflektiert, welche Erfahrungen ihm mental mitgegeben bzw. eingeschrieben wurden. Wir sehen das Neugeborene an der Mutterbrust, den stolzen Vater, Familienfotos. Violetas / Andys binäre Geschlechtsidentität verortet sich an der Schwelle, von wo aus es in Richtung Frau oder Mann oder diverser Kombinationen gehen kann. Das eigene Begehren gibt nur bedingt Antwort auf die Ich-Setzung. Schließlich ist aus ihr / ihm selbstentschieden Noah geworden. Die Großmutter erzählt von ihrer Zeit in einem Kibbutz in den 1970er Jahren, vom Einfluss durch Simone de Beauvoir, von der feministischen Revolte. Die Mutter ist Künstlerin und filmt hier ihr Kind Noah selbst im Interview-Porträt. Stichworte sind: another way of living – change the system – open wings. Wasser als Quell des Lebens und Element des Wechselhaften, das mehrmals in die Filmbilder hineinspült, spendet »Limiar« seine fließende Form. (Begehrt! – Filmlust queer)
Das Blut von Mohn
»Landscapes of Resistance« von Marta Popivoda
Eine alte Dame mit ihrer Katze auf dem Schoß. Eine Wiese voll blühendem Mohn. Dazu erklingt ein serbisches Volkslied, das das Rot der Blume besingt, aber in Beziehung setzt zu Bitternis, Schmerz und Blut. Die alte Dame erzählt. Wie sie, Sonja Vujanović, als Studentin mit den Schriften von Maxim Gorki und anderen progressiven Büchern in Berührung kommt, in die jugoslawische KP eintritt, in den Untergrund geht, ihren Mann Sava im Freiheitskampf verliert, selbst zum ersten weiblichen Partisan, von der SS und Gestapo gefoltert und aktiv beim Widerstand im KZ Auschwitz-Birkenau wird, von wo sie kurz vor der Befreiung fliehen und sich zur Roten Armee retten kann. Eine Weile lang hört man nur Sonjas Stimme, während wir andere Bilder sehen, leicht verfremdete bis manipulierte Landschaftsbilder: ein winterliches Feld, Weiher und Fluss, Ähren im Wind, die Anmutung von Wald – einst ihr Unterschlupf –, auch Gemäuer, das heimische Interieur und später auch Zäune und die Öfen, bis der Person, um die es geht, die Kamera zugemutet wird. Aber nur sporadisch, als wäre permanentes Beobachten des Menschen bei seinem Erinnern ein Überschreiten des Zulässigen und als würden die fotografischen Stillleben eine zweite Erzählung ergeben und ihr elementare Gültigkeit verleihen. Sonja stirbt im Mai 2019. Dieser »politische Film«, wie sie sagt, ehrt sie. (Panorama)
Nach der Live-Eröffnung am 15. Juni können alle Festivalfilme bis 20. Juni über die Video-on-Demand Platform des Festivals angeschaut werden. In einem Kinder- und Jugendprogramm werden außerdem elf Dokumentar- und Spielfilmen für alle Altersstufen angeboten.