Einer der Höhepunkte der Ruhrfestspiele 2021 soll die Uraufführung der »Konferenz der Abwesenden« werden, dem neuesten Projekt von Rimini Protokoll. Was hat das Kollektiv darin vor? Und was hat ihre neueste Arbeit mit der Klimakrise zu tun? Ein Gespräch mit Ko-Regisseurin und -Autorin Helgard Haug.
kultur.west: Frau Haug, »Konferenz der Abwesenden«, das klingt erst einmal nach einem Widerspruch.
HAUG: Wir haben zwar die Konferenz als Format gewählt, aber es ist ein Stück, in dessen Zentrum, wie so oft in unseren Arbeiten, eine Gruppe von Expertinnen und Experten steht. Normalerweise würde die mit von einem Aufführungsort zum anderen reisen, und wir würden die Inszenierung an den jeweiligen Ort anpassen und aktualisieren. Doch diesmal wollten wir ein Projekt realisieren, bei dem gar nicht gereist wird. Also haben wir ein System entwickelt, durch das weder unser Team noch die Experten vor Ort sein müssen. Stattdessen übernehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer, die im Theaterraum zusammenkommen, deren Aufgaben.
kultur.west: Werden aus den Zuschauenden also Handelnde?
HAUG: Ja. Es geht an diesem Abend um den Prozess der Aneignung. Das Publikum erhält die Chance, auszuprobieren und zu erleben, wie es sich anfühlt, bestimmte Ideen und Standpunkte zu vertreten. Es hört den Experten nicht nur zu, es übernimmt für eine gewisse Zeit deren Positionen.
kultur.west: Ein solches Experiment birgt aber auch die Gefahr, dass das Publikum sich verweigert.
HAUG: Absolut. Ich selbst bin ja auch Autorin und Regisseurin geworden, weil ich eben nicht gerne auf der Bühne stehe. Aber in diesem Fall machen wir dem Publikum ein Angebot. Es muss auch nicht jeder auf die Bühne. Wir hoffen, dass im Lauf der Vorstellung eine Atmosphäre entsteht, die als Einladung verstanden wird. Eine Atmosphäre, die es den Zuschauerinnen und Zuschauern ermöglicht, aus ihrer Komfortzone herauszukommen, die in ihnen den Wunsch weckt, tatsächlich mal auszuprobieren, was es heißt, sich eine andere Sicht, eine andere Perspektive zu eigen zu machen.
kultur.west: Um welche Sichtweisen und Biographien geht es denn im Laufe des Abends?
HAUG: Wir haben lange Gespräche mit neun Menschen geführt, die alle auf ihre eigene Weise Experten für Abwesenheit sind. Eine von ihnen sitzt als Geflüchtete auf der Insel Lesbos fest und wird so tagtäglich damit konfrontiert, dass Europa abwesend ist, sobald es um die Verantwortung für Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten geht. Eine bereitet sich darauf vor, als Astronautin ins All zu gehen und damit unseren Planeten zu verlassen. Wieder ein anderer vertritt als Anwalt auch Kriegsverbrecher und muss damit Positionen verteidigen, die nicht seine sind.
kultur.west: Das klingt nach einem geradezu weltumspannenden Spektrum. Welche Rolle spielt dabei Ihre eigene Position als international agierende Theaterkünstlerin?
HAUG: Ein Ausgangspunkt für dieses Projekt war die Frage nach der eigenen CO2-Bilanz bei unseren Aufführungen und Gastspielen. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, ein Format zu entwickeln, bei dem alles an dem Ort der Aufführung generiert werden kann Ein Projekt, bei dem kein Bühnenbild transportiert werden muss, bei dem niemand anreist, bei dem keine Hotelzimmer gebucht werden müssen und bei dem auch wir als Autorinnen und Regisseure abwesend sein können.
kultur.west: Ist die Frage nach der eigenen CO2-Bilanz etwas, das sie künstlerisch hemmt?
HAUG: Nein. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, sich diese Frage ganz laut zu stellen. Nur so kann man sich selbst immer wieder überprüfen. Wenn man sich fragt, ob etwas, beispielsweise eine Flugreise, wirklich notwendig ist, entwickelt man automatisch Alternativen. Natürlich gibt es keine pauschalen Lösungen. Ich persönlich kann nicht sagen, ich steige nie mehr in ein Flugzeug. Aber natürlich wäge ich nun ernsthaft ab und überlege, welche Reise wirklich notwendig ist. Als freie Gruppe können sehr agil reagieren und unsere Formate und Erzählweisen weiterentwickeln. Genau in diesem Sinne funktioniert auch die »Konferenz der Abwesenden«. Wir arbeiten mit vertrauten Werkzeugen und machen doch alles anders.
Zur Person
Helgard Haug arbeitet seit 2000 immer wieder mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel zusammen. 2002 gründeten sie, die alle Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen studiert haben, das Kollektiv Rimini Protokoll. Mit dokumentarischen Inszenierungen wie »Karl Marx: Das Kapital« und »100 Prozent« sind sie international berühmt geworden.
»Konferenz der Abwesenden« hat am 2. Juni 2021 im Theater Marl Premiere. Weitere Vorstellungen finden am 3. und 4. Juni statt.