Die Siegener Historikerin Reinhild Kreis hat eine etwas andere Geschichte unseres Konsumzeitalters geschrieben. Ein Gespräch über Reformhäuser, ungeliebte Bohrmaschinen und neue Erfahrungen im Lockdown.
kultur.west: Frau Kreis, warum stellen heute immer mehr Menschen selbst Dinge her, die sie eigentlich kaufen könnten?
KREIS: Zum einen, weil sie wollen. Und zum anderen, weil sie müssen. Dieses Wollen und Müssen kann unterschiedliche Hintergründe haben. Beim Müssen denkt man schnell zum Beispiel an materielle Not und dass man Dinge haben möchte, die man sich nicht leisten kann. Weil man zu wenig Geld hat, aber stattdessen seine Zeit, Arbeitskraft oder Materialien investiert, um den Geldnachteil auszugleichen. Zum Müssen zählt aber auch gesellschaftlicher Druck. Je nach den Zeitumständen gab es vom 19. Jahrhundert bis in die BRD und DDR hinein sehr unterschiedliche Ansichten, wie man sich zu ernähren hat, wie man Kinder versorgt oder seine Gäste empfängt.
kultur.west: Meine Oma hat in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet gewohnt, in der es verpönt war, nicht alles selbst zu machen. Dafür gab es schließlich den Siedlerbund, über den man sich Werkzeuge aller Art ausleihen konnte. Bestenfalls durfte noch der Nachbar hinzugezogen werden. Gibt es solche Zwänge überhaupt noch?
KREIS: Es gibt heute auf jeden Fall noch den Wunsch, sich gruppenkonform zu verhalten und ein gewisses Wertebewusstsein durch das Selbermachen nach außen zu stellen. Bei Akademiker-Eltern ist es heute zum Beispiel ein Muss, Babybrei selbst zu machen, aber man muss sich schon sehr genau anschauen, was die Intensität des Druckes angeht. Der ist heute natürlich nicht mit ideologischen Zwängen wie etwa während der NS-Zeit vergleichbar. Oder mit Druck, der früher über Schulen, Vereine, Kirchen und Verbände ausgeübt wurde.
kultur.west: Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren war es zunächst ein großer Wunsch, Lebensmittel möglichst zu kaufen. Am besten aus der Dose! Was hat dazu beigetragen, dass wir heute meinen, möglichst viel wieder selbst machen zu müssen?
KREIS: Da sind wir ganz klar beim Wollen, da geht es um Freizeitgestaltung, aber auch darum, Zugehörigkeit zu einem bestimmten Wertehaushalt zu zeigen. Ich glaube aber, dass nur ein bestimmter Teil der Gesellschaft gerade meint, alles selbst machen zu müssen. Allerdings ist das ein Teil, der sehr sichtbar ist. Das ist zum Teil einfach auch eine Modeerscheinung. Ich glaube aber nicht, dass das für ein grundsätzliches Umdenken in unserem Konsumverhalten steht. Dem stehen einfach die hohen Zugriffszahlen im Onlinehandel oder bei Essensbestellungen über Lieferdienste entgegen.
kultur.west: Deutschland ist bekannt dafür, ein Land der Vereine zu sein. Ist es auch ein Land der Bastler?
KREIS: Ja. Allerdings haben wir uns einiges in anderen Ländern dafür abgeguckt. Als Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen Schulen der Knabenhandfertigkeitsunterricht eingeführt werden sollte, da haben die Deutschen stark in die skandinavischen Länder, nach Großbritannien und in die USA geblickt. Auch die Idee der Baumärkte und der Begriff Do-it-yourself kommen ja von dort.
kultur.west: Typisch deutsch ist aber auch eine große Wertschätzung für das Handwerk, oder?
KREIS: Ja, auf alle Fälle. Aber auch die immerwährende Frage, wer denn eigentlich Laie und wer Experte ist (lacht). Mit Blick auf das Handwerk sind wir sind jedenfalls auch ein Land der Zertifizierungen und Formalisierungen im Vergleich zu anderen. Trotzdem hat sich zum Beispiel durch die Baumärkte seit den 1960er Jahren einiges verschoben. Schon allein, weil sie viele Produkte zugänglich machen, die vorher nur Handwerker kaufen konnten.
kultur.west: Ich habe vor einiger Zeit im Baumarkt Do-it-Yourself-Möbel gesehen, die auf den ersten Blick sehr kreativ aussahen – in Wahrheit war aber alles an ihnen vorgeschrieben. Anscheinend gibt es also auch so etwas wie pseudo-selbstgemachte Dinge…
KREIS: Do-it-Yourself ist ein riesiger Markt, auf dem es darum geht, selbst kreativ werden zu können, zugleich aber sicher zu sein, nicht zu scheitern. Das geht ja schon bei Backmischungen los. Wenn wir ans Selbermachen denken, dann denken wir üblicherweise an Konsumferne. Aber in den meisten Fällen setzt es Konsum voraus. Bausätze oder ähnliches als »kreativ« und »Do-it-yourself« zu verkaufen ist eine Marketingstrategie mit langer Tradition.
kultur.west: Es geht aber auch darum, gewisse Werte zu zeigen, oder?
KREIS: Ja. Selbermachen wird heute zum Beispiel mit Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht. Aber Selbermachen ist nicht per se besser als kaufen. Wenn sich jemand eine Bohrmaschine kauft und dann nur einmal in zehn Jahren verwendet, ist das bestimmt kein nachhaltiger Konsum.
kultur.west: Glauben Sie denn, das die Erfahrungen des Lockdowns viele Menschen dazu gebracht hat, künftig auf gesündere Ernährung zu achten?
KREIS: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen künftig bewusster mit Dingen umgehen. Und dass sie sich klar machen, wie gut wir mit Angeboten in diesem Land versorgt sind. Im ersten Lockdown stand vielen plötzlich die Frage vor Augen, wie sie sich ernähren würden, wenn die Geschäfte nicht mehr öffnen dürften. Was wäre, wenn der Nachschub für den Supermarkt fehlt? Für viele war das sicherlich zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie eine anfängliche Mangelerfahrung. Aber der Wunsch, regionaler, fairer, klimaneutraler zu konsumieren, ist ja auch durch Kaufprodukte möglich. Diesen Gedanken gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert und der Lebensreformbewegung, deren Anhänger sich dafür eingesetzt haben, dass es gesunde, natürliche Qualität auch zu kaufen gibt – in den Reformhäusern. Das zeigt aber auch, dass Kaufen oder Selbermachen nicht immer die bessere oder schlechtere Alternative ist. Man muss genau gucken, wer was wie macht – und warum.
Reinhild Kreis
Die Historikerin Reinhild Kreis hat in Augsburg, Washington und Wien geforscht, an der Ludwig Maximilians Universität in München promoviert, an der Universität Mannheim habilitiert und 2019/2020 den Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen vertreten. Seit diesem März ist sie Professorin für die Geschichte der Gegenwart an der Universität Siegen. Zurzeit arbeitet sie an einem Projekt zu deutschen Jugendwettbewerben im 20. Jahrhundert. In ihrer Freizeit kocht, backt und bastelt sie gerne.
Reinhild Kreis: Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters, Campus Verlag 2020, 39,95 Euro