640 Seiten, davon allein rund 150 als Anhang mit Bücherliste und Anmerkungen. Es ist ein prächtiger Wälzer, den Christian Metz über die Empfindung des Kitzels vorgelegt hat. Aber braucht man ein so breites Werk über ein derart flüchtiges Gefühl überhaupt? Die Antwort liefert der Autor selbst mit einem Zitat des Satirikers Joseph J. Winkler von Mohrenfels, der 1789 seine »ethymologisch-kritisch-philologisch-historisch-philosophische Abhandlung von Kützel« veröffentlichte und ironisch mutmaßte: »[K]önnte die philosophisch-systematische Abhandlung über den Kitzel das allerunnötigste Ding unter dem Monde sein?« Auch Metz kann diese Frage nicht ganz von der Hand weisen. Aber er betont, dass sich seit den 1990er Jahren die Gefühls- und Emotionsforschung fest etabliert hat – auch wenn sie bisher eher auf Schmerz und Furcht oder auf Lust und Freude ausgerichtet war. Eine gemischte Betrachtung blieb lange außen vor, trotz der grundlegenden Bedeutung des Kitzelns für die Kulturen von Freude, Spiel und sozialer Interaktion.
Wenn Jesus kichert
Der Mensch ist von Geburt an kitzelig und verliert diese Eigenschaft bis zu seinem Tod nicht. Jeder kann also aus eigener Empfindung bei dem Thema mitreden, die meisten verbinden damit wahrscheinlich jene unbeschwerte Heiterkeit des Komikers Stan Laurel, der auf dem Umschlag ordentlich durchgekitzelt wird. Christian Metz arbeitet sich in seiner »Genealogie einer menschlichen Empfindung« akribisch durch die Jahrhunderte, beginnend in der Antike, bei Aristoteles‘ Erfindung des »Homo titillatus«, der lacht, weil er gekitzelt wird und sich so vom Tier unterscheidet. Im Kapitel »Renaissance-Kitzel: Sakral und sanft« widmet er sich unter anderem den Darstellungsformen des Kitzels in christlichen Bildnissen, etwa Andrea Pisanos Skulptur eines lachenden Jesus, der Marias Neckereien abzuwehren versucht.
Descartes hat sich im 17. Jahrhundert dafür interessiert, wie durch Kitzeln nicht nur Freude, sondern auch Schmerz hervorgerufen werden kann. In Grimmelhausens »Simplicissimus« (1668/69) findet sich dann auch der Lachkitzel als fiese Foltermethode, bei der Ziegen die nackten Fußsohlen gefesselter Opfer lecken. Da liegt die Assoziation zum »totlachen« zwar nah, das Ableben tritt dabei aber aus Erschöpfung durch den stimulierten Lachreflex ein. Metz‘ Forschung führt bis in die Moderne in die Sichtweite des sexuellen Kitzels zu Ernst Jandls Sonett »möbel« und Elfriede Jelineks Roman »Lust« und dessen Verhandlung über den Begriff des weiblichen Kitzlers.
Trotz des umfangreichen Materials, für dessen Lektüre es durchaus etwas Ausdauer braucht, sieht Metz seine Arbeit aber noch nicht am Ende: »Es sind noch zahlreiche Geschichten des Kitzels zu erzählen, bis sich die Geschichte formatiert haben wird«, schreibt er am Schluss. »Und es werden immer neue erfunden werden. Die kulturelle Hochzeit des Kitzels fängt vielleicht gerade erst an.«
Christian Metz: »Kitzel – Genealogie einer menschlichen Empfindung«, S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main, 2020, 640 Seiten, 32 Euro